Im November 2018 jährten sich die Ereignisse um den Landesstreik zum hundertsten Mal. Für die meisten von uns ist der Landestreik verantwortlich für Errungenschaften wie die AHV oder die 48-Stunden-Woche. Für Christoph Blocher und die SVP jedoch, bietet dieses Jubiläumsjahr die Möglichkeit die Geschichte „richtigzustellen“.

Am 12. November 1918 rief das Oltener Aktionskomitee (OAK) den landesweiten Generalstreik aus, der später gemeinhin als Landesstreik ins kollektive Gedächtnis der Schweizerinnen und Schweizer gelangte. Es wurden breite Teile der Arbeiterschaft mobilisiert, sogar Bankangestellte und Eisenbahnmitarbeitende beteiligten sich. Die Stimmung in der Schweizer Bevölkerung war 1918 durch strenge Rationierungen, Hunger und der spanischen Grippe getrübt. Die Arbeiterschaft forderte unter anderem eine Alters- und Invalidenversicherung, den Acht-Stunden-Tag, das Frauenstimmrecht, eine Vermögenssteuer und die Sicherung der Lebensmittelversorgung. Der Streik wurde aber schon am 14. November wieder abgebrochen, nachdem der Bundesrat dem OAK ein Ultimatum mit der Drohung der gewaltsamen Auflösung gesetzt hatte. Historiker sind sich heute einig, dass der Landesstreik die Einführung der 48-Stunden-Woche und der AHV begünstigte sowie ein Bewusstsein für die Anliegen der Arbeiterschaft geschaffen wurde. Bei späteren Krisen, wie beispielsweise dem Zweiten Weltkrieg, wurden Gewerkschaften und Arbeiterinnen und Arbeiter immer schon im Voraus miteinbezogen, um ähnlichen Ereignissen vorzubeugen

Kavallerie Patrouille auf dem Kornhausplatz während des Landesstreiks

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Christoph Blocher, Alt-Bundesrat und noch immer SVP-Parteistratege, hielt in letzter Zeit gerne Vorträge zum Thema Landesstreik und schrieb beispielsweise in der Weltwoche über den „Bürgerschreck und Bürgerkrieger“ Robert Grimm, den Anführer des OAK. Am 13. November hielt Blocher einen Vortrag in Uster, mit dem er „Bevölkerung, Behörden und Soldaten“ von damals (während des Landesstreiks 1918) danken wollte. Empörte Gegenreaktionen liessen nicht lange auf sich warten, denn ging es bei der Erinnerung an den Landesstreik nicht eigentlich um viel wichtigere Themen, wie die Würdigung der darauffolgenden Einführung der AHV? Für Blocher war dies am Abend des Vortrages kein Thema, er lobte das militärische Eingreifen und die repressive Haltung des Bundesrates. So sei die Gefahr „eine Diktatur des Proletariats nach russischem Vorbild“ errichten zu wollen, erfolgreich gebannt worden.

Es ist nicht das erste Mal, dass Herr Blocher historische Ereignisse für seine Zwecke instrumentalisieren will. Seine Deutungen des Landesstreiks als gefährliche Krise für den bürgerlichen Schweizer Bundesstaat, lassen sich heute nicht belegen und verklären die wahren Fakten. Wer den Landesstreik als Beginn einer sozialistischen Revolution in der Schweiz darstellt, verkennt, dass die breite Masse der Streikenden zu keinem Zeitpunkt dieses Ziel hatte, sondern lediglich auf die Missstände ihrer Situation hinweisen wollten. Es ist wichtig, dass wir uns nicht von verklärenden historischen Deutungen verführen lassen und den Landesstreik angemessen erinnern und würdigen.

Photo: Wikimedia Commons

Text: Gioia Jöhri