Neulich war wieder einer dieser Tage danach. Die Nacht war lang und feuchtfröhlich geworden und machte alle Pläne für den folgenden Tag zunichte. Der Alkohol hatte alle Euphorie-Reserven restlos aufgebraucht und um drei Uhr nachmittags beim Aufwachen brach die dunkle Wolke der Reue über mich herein. Hatte ich mir gestern nicht vorgenommen, heute wirklich, aber wirklich meine To-Do-Liste anzupacken? Und jetzt hatte ich die Zehn-Uhr-Vorlesung schon wieder verpennt!

Da hat der junge Student an einem seiner drei Uni-Tage eine Vorlesung und es ist ihm nicht möglich, sein Lernorgan für zwei Stunden an diesen Ort zu schaffen, da er mit ihm nichts Besseres anzufangen weiss, als es nächtelang im Suff zu verkrüppeln. Da liegt er, der zukünftige Akademiker, sein empfindsamer Akademikerleib in Embryonalstellung unter der warmgefurzten Winterdecke. Zuflucht suchend vor der grausam-schnöden Welt, die ihm zehn Seiten Hausarbeit bis morgen Abend abverlangt, doch er kann sich so schlecht konzentrieren! Er müsste sofort anfangen, aber der geschwächte Student, die zukünftige intellektuelle Elite des Landes, kann nicht aufstehen ohne eine Stunde Übergangszeit, die er im Bett auf dem Rücken wie ein Käfer zubringt. Aus einer heissen, halbstündigen Dusche, die fast kein Ende findet, schleppt er sich zur Kaffeemaschine und er sieht auch nicht ein, weshalb er heute auf die obligatorische Musik zum Kaffee verzichten sollte. Gerade heute, gerade jetzt braucht er sie, ja, er klammert sich an sie, saugt sie ein wie die Morgenluft, die er als guter Student höchstens am Ende des Abends in die Nasenlöcher kriegt.

Und während er wie ein Pflegebedürftiger am Tropf seiner staubstarrenden Stereoanlage hängt, stehen draussen Bauarbeiter seit sieben Uhr in sechs Grad kalter Luft und stopfen das Loch in der Strasse, steigt der Paketbote gerade zum neunundsiebzigsten Mal aus dem Auto in der achten Stunde seines zehnstündigen Arbeitstages, spürt die dreissigjährige Mathe-Referendarin bei der Korrektur der letzten Klausur ihr viertes Haar ergrauen. Und er weiss das alles und er schämt sich und die Scham, so unnütz zu sein, lähmt ihn völlig und die nächste halbe Stunde rührt er sich nicht vom Fleck und verachtet sich selbst. Draussen ist es längst dunkel, an der Zimmerdecke rauschen die Lichter des Abendverkehrs vorbei und im Treppenhaus knallen die Türen der Heimkehrer, die nun ihr gerechter Feierabend empfängt.

Da fährt ein Ruck durch den Studenten, ächzend erhebt er sich, sein Rücken bereitet ihm Ärger, er setzt sich in Bewegung, schlurfend sein Gang, schlaff seine Haltung, Richtung Küche. Und dort beginnt er zu spülen. Wie befriedigend dieses Gefühl, wenn ein widerspenstiger Krumen dem Druck seiner Hand nachgibt! Wie herrlich es schäumt um seine Finger! Mit jedem Teller, den er sauberwischt, spült er auch seine Seele ein Stück freier, reinigt er sich vom Schmutz und der Sünde vergangener Ausschweifungen. So sehr rührt ihn die Gewissheit, endlich doch noch etwas Sinnvolles zu tun, dass, wenn es einen Gott gäbe und der ihn in diesem Augenblick sähe, er nicht wüsste, ob der Glanz in seinen Augen echte Tränen sind oder bloss eine Reizung des Spülmittels.

Photo: Pixabay

Text: Johannes Rohwer