Sie machte unwiederbringlich etwas falsch, das wusste sie nun. Die Welt hatte es ihr bestätigt, auf subtile Weise, doch sie wusste die Zeichen zu deuten. Der Blick auf den Kalender wurde ihr zu einer Synopse ihres geschäftigen Lebens und zugleich zu einem Konzentrationspunkt des Ganzen, das in seinem Zentrum eben diese verhängnisvolle Wahrheit barg, die ihr mit einem Schlage klar wurde: „Du machst etwas falsch in deinem Leben.“ Es war nun schon Anfang Dezember. Und sie war noch nicht gestresst.

Es gehörte zu den gelebten Paradoxien des modernen Stadtmenschen, dass er die Weihnachtszeit gleichzeitig begrüsste, wie auch zu vermeiden suchte. Eigentlich mochte er die Wonne und Einkehr der besinnlichen Zeit, drängte aber darauf, seinem sich selbst kasteienden Wesen gemäss, sich diesem unerträglichen Wohlbefinden nur so selten als möglich auszusetzen. Glücklicherweise war es so oft sein Stress, den der Stadtmensch, unter einem Berg von Arbeit begraben, vorschützen konnte, um Weihnachtsgedudel im Supermarkt und Glühwein auf Wintermärkten tunlichst zu vermeiden.

Ihr ging es leider anders. Sie liebte diese vorweihnachtliche Stimmung. In allen Geschäften wurde bereits Weihnachtsmusik gespielt und auch Zuhause hörte sie sich die gängigen Lieder an, die jedes Jahr wieder die Hitparade stürmten. Schliesslich hatte man genau einen Monat Zeit, um sich an diesen bestimmten Liedern zu erfreuen. Danach musste man die Weihnachts-CDs in die unterste Schublade stecken und elf Monate lang ignorieren. Ausser natürlich man wollte als verrückt gelten oder es war einem schlichtweg egal, was andere von einem dachten. Ihr allerdings war es nicht egal.

Gerade hatte sie mit ihrem Bruder telefoniert. Einmal mehr war es ihr unverständlich, wie er der Vorweihnachtszeit mit so viel Gleichgültigkeit, ja gar Arroganz, entgegenblicken konnte. Er hatte absolut nicht verstanden, wieso sie bereits am siebten Dezember besprechen wollte, was sie ihren Eltern dieses Jahr schenken würden. Er war in dieser Hinsicht durch und durch ein Geschäftsmann und Stadtmensch. Wenn es nach ihm ginge, hätten sie die Geschenke längst abgeschafft und würden sich bloss zu einem gemütlichen Essen am Weihnachtsabend zusammenfinden, ohne den ganzen „Zirkus“, wie er es nannte.

Insgeheim musste sie ihrem Bruder ja zustimmen. Die Weihnachtsmusik klang betörend-wohlig, solange Weihnachten Zukunftsmusik blieb. Jedes Umblättern des Kalenders jedoch liess Dissonanzen entstehen, die einhergingen mit dem vorweihnachtlichen Stress.

Aber sie war noch nicht gestresst. Das würde vielleicht später kommen, doch es blieb ja noch viel Zeit. Noch war alles wunderbar.

Das einzige was sie an der Adventszeit störte, waren die vorweihnachtlichen Pflichten, also vor allem das Besorgen von Weihnachtsgeschenken. Hatte man gerade keine zündende Idee, dann kam sie selten von alleine. Jedes Jahr dasselbe. Aber dieses Jahr hatte sie Zeit. Viel Zeit. Zu viel Zeit?

Helfen tun in dieser Situation die Stadtmenschen wie ihr Bruder sicher nicht. Er müsste ja nicht alle Jahre wieder über den Weihnachtsstress herziehen, der neben seinem eigenen Stress keinen Platz findet. Alle wissen, dass Weihnachten nicht gemütlich ist, deswegen musste man diesen Stress aber nicht noch extra in den Vordergrund stellen, fand sie.

Ein Geräusch in der Küche liess sie aufschrecken. Sie hängte den Kalender zurück an die Wand und lief dem Klirren entgegen.

Erleichtert atmete sie auf. Nur ihre Katze Cupcake hatte wieder mal den Weg auf die Ablage gefunden und eine Plastikschüssel über den Rand hinweg geschubst. Unschuldig blickte sie ihr entgegen. „Dummes Vieh“, murmelte Hanna und drehte sich in Richtung Türe.

Auch wenn ihr Bruder keine Anstalten machte, Geschenke zu besorgen, sie wollte sich diese Vorbereitung, ganz ohne Stress, nicht nehmen lassen. Stadtmenschen hin oder her, man konnte nie zu früh Geschenke kaufen. Als sie so im Lift stand, dachte sie an die vergangenen Zeiten und alles was schiefgelaufen war. Dies war auch der Grund dafür, dass der Vorweihnachtsstress dieses Jahr einfach nicht einsetzen wollte und auch nicht kommen würde. Nicht jetzt, dachte sie im Stillen und versuchte, sich auf die Weihnachtsmusik zu konzentrieren, welche im Lift die Weihnachtsstimmung zu verbreiten versuchte.

Auf der Strasse wurde sie vom ersten Schnee begrüsst, der sanft vom Himmel fiel.

An ihre weniger schönen Adventserinnerungen wollte sie jetzt keinen Gedanken verschwenden. Und erst recht nicht die Zeit, in der sie Geschenke kaufen konnte. Wum! Fast wäre sie hintenübergekippt, als vor ihrer Nase ein Coca-Cola-Truck über die Strasse bretterte.

Gedanklich nun endgültig zurück in der Realität, tapste sie los Richtung Weihnachtsmarkt und hinterliess dabei einsame Stiefelspuren in der dünnen Schneedecke. Die ersten Lichterketten leuchteten ihr warm entgegen und sie glaubte, den Geruch von Glühwein in der Nase zu haben, als sie plötzlich von der Seite gerammt wurde. Hanna strauchelte und fiel unsanft auf den weiss gepuderten, aber harten Asphalt. Die dafür verantwortliche Gestalt in schwarzer Kapuzenjacke mit Riesenkopfhörern hatte damit wohl genauso wenig gerechnet wie Hanna. Bevor diese ihr nämlich eine Verwünschung an den Kopf werfen konnte, streckte sie Hanna eine Hand entgegen. „Sorry, Anti-Weihnachtstherapie. Ich höre nur noch Heavy Metal.“ Die Gestalt grinste verschmitzt und half Hanna auf. „Darf ich dir vielleicht einen Glühwein spendieren?“

Sie war versucht, die Einladung anzunehmen, doch ihr war der Typ suspekt. Wieso war der nicht gestresst, wieso hatte der Zeit, hier Heavy Metal hörend rumzuhängen? Fing sie etwa schon an, in die Gesellschaft arbeitsscheuer Wintermarkt-Schlenderer zu geraten? Ihr Zögern dauerte so lange, dass es das Lächeln in der Kapuzenjacke schief werden liess. Sie fühlte sich bestätigt. „Da kommt dein wahres Gesicht hervor!“, dachte sie sich. Sie schnitt ihm eine Grimasse: „Deinen blöden Glühwein kannste jemand anderem andrehen! Mach die Biege oder ich schmier’ dir eine, die dir schief kommt!“ Der junge Mann mit der Kapuzenjacke machte ob dieses urplötzlichen Ausbruches schnell kehrt und verschwand mit einem ängstlichen Gesicht in der Menschenmenge des Wintermarktes.

Einige nahestehende Passanten und Passantinnen, die den Vorfall mitbekommen hatten, sahen Hanna verwundert an, und auch sie selbst war über sich erstaunt. So hatte sie sich noch nie erlebt.

Dann fing sie plötzlich an zu lachen.

Jetzt hatte sie Stress gehabt, ihn richtiggehend gesucht, zumindest umgangssprachlich.

Besser gelaunt, schlenderte sie nun doch den Ständen des Wintermarktes entgegen, mit dem Vorsatz, sich ihren Glühwein selbst zu besorgen und ihn sich nicht von irgend so einem dahergelaufenen Bengel schenken zu lassen, der dafür auch noch Dankbarkeit und weiss Gott was noch alles erwarten würde.

Beim Stand angekommen, sog sie den süsslichen Duft von warmem Alkohol, Zimt und anderen Gewürzen ein. Nach der ganzen Aufregung freute sich Hanna jetzt umso mehr auf das Getränk mit dem Geschmack von Weihnachten. In glückseliger Ruhe, mit Glühwein in der Hand und im Magen, begann Hanna, um die Stände zu schlendern. Selbstgemachte Schals, Schmuck und Schutzengel wechselten sich ab und die Standbesitzerinnen und -besitzer lächelten allen Passantinnen und Passanten zu, in der Hoffnung, etwas Weihnachtsgeld zu verdienen. „Hier finde ich sicher etwas für Mama“, dachte Hanna. Ihre Mutter liebte Kitsch, was hier überall zu finden war. Bei einem Stand mit Weihnachtsbaumschmuck blieb sie stehen und betrachtete die kleine Auslage von Sternen, Engeln und Weihnachtsmännern. Gerade wollte sie weitergehen, als sie auf einer kleinen Eispfütze ausrutschte und wie in einem schlechten Film nach hinten fiel. „Wieso immer ich“, dachte Hanna im Flug noch und machte sich auf einen harten Aufprall gefasst.

Jedoch landete sie nicht auf dem Boden, sondern in zwei grossen, starken Armen. Völlig perplex schaute Hanna auf und sah ein schmunzelndes Gesicht, umrahmt von zwei grossen Kopfhörern, aus denen gerade in voller Lautstärke Metallica plärrte. „Hallo meine Liebe, so trifft man sich wieder.“

So lag sie also in seinen Armen und stiess kurze, kaum hörbare Atemstösse aus. Alles um sie herum erschien irgendwie surreal. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sie von Metallica aus ihrer Starre gerissen. Sie wollte gerade zu einer Schimpftirade ansetzen, beliess es aber beim Gedanken und nahm sich Zeit, ihren Retter etwas genauer zu mustern: Braunroter Wuschelkopf, das Gesicht voller Sommersprossen, dunkle, wache Augen, feine Nase. „Pech gehabt, ich hatte bereits einen Glühwein“, sagte sie schnippisch und zeigte dabei mit dem Fingern auf den vom Glühwein rot verfärbten Pulverschnee. „Halb so wild, jetzt bist sowieso du an der Reihe“, erwiderte er in aufgesetzt lässiger Manier, wobei sein linkes Auge nervös zu zucken begann. Dieses Mal war ihre Reaktionszeit kürzer; die Hand schnellte hervor, bremste jedoch vor dem Aufprall ab und streifte lediglich die vordere, rechte Wange und den kleinen Nasenspitz.

Völlig perplex ob der Beinahe-Ohrfeige und der kuriosen Situation, begann er laut loszulachen. Das schrille Gelächter liess ihren Anflug von Mitleid im Keim versticken. Sie stampfte wutentbrannt davon und ärgerte sich über ihre Unbeherrschtheit und gleichzeitig über den schwachen Versuch, der sie hilflos aussehen liess.

Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, fragte sie sich, weshalb sie gerade so ausgerastet war. Klar, beim ersten Mal war der Typ vollkommen verantwortungslos in sie hineingerannt, doch beim zweiten Mal hatte er sie vor einer üblen Platzwunde oder Schlimmerem bewahrt. Eigentlich wären sie quitt gewesen, aber natürlich musste sie wieder übertreiben und ihm, zumindest andeutungsweise, eine verpassen. Die zwei Begegnungen mit dem Heavy-Metal-Typen hatten sie aus dem inneren Gleichgewicht gebracht und die Aussicht, nach Geschenken für ihre Liebsten zu suchen, war plötzlich gar nicht mehr so verlockend. Sie wollte einfach wieder zurück nach Hause und sich mit Cupcake auf dem Sofa einkuscheln. Hanna strich ihren Mantel glatt und musste dabei feststellen, dass der hellgraue Stoff rote Glühweinflecken aufwies. „Nicht auch das noch!“, stöhnte sie genervt.

„Schlechter Tag heute?“, fragte der ältere Herr hinter dem Marronistand mit freundlichem Blick. Hanna wurde bewusst, dass sie mal wieder laut gedacht hatte. Sie nickte und starrte missmutig auf ihren Mantel.

„Hier, nehmen Sie eine Portion warme Marroni. Das wird Sie bestimmt wieder aufmuntern.“

„Danke“, sagte sie lächelnd und nahm die Tüte entgegen. Vielleicht wurde der Tag ja von jetzt an besser und nicht schlechter.

Auf dem Nachhauseweg knabberte sie eine Marroni, dachte nach, liess die Schalen zurück in die Tüte fallen, nahm sich noch eine. Ein Glück, dass sie heute keine Verpflichtungen hatte. Sie hätte wahrscheinlich nichts auf die Reihe bekommen.

Auf der Strasse, an der sie wohnte, war die Schneedecke dicker geworden und die Luft kälter. Als Hanna anfing, in ihrer Tasche nach dem Wohnungsschlüssel zu kramen, stupste sie jemand von der Seite an.

Beinahe wäre sie vor Schreck in ihre Haustür gestolpert, als sie merkte, wer es war. „Du schon wieder? Bist du mir etwa gefolgt?“

Die Kopfhörer hingen ihm lose um den Hals, noch immer lief Metallica. „Das hier ist nicht so unheimlich, wie du denkst!“, verteidigte er sich.

Hanna zog eine Augenbraue hoch und machte Anstalten weiterzugehen, um ihn nicht annehmen zu lassen, dass sie in diesem Block wohnte. „Warte“, sagte er schnell, „dir ist dein Schlüssel aus der Tasche gefallen, als du auf dem Weihnachtsmarkt ausgerutscht bist.“ Er holte ihn aus seiner Jacke und fing an, vor ihrer Nase damit rumzuwedeln, als wäre der Schlüssel selbst noch nicht Beweis genug für seine Aussage. Hannas Augen weiteten sich ein kleines bisschen, bevor sie ihm den Schlüssel aus der Hand schnappte.

„Lust auf Glühwein?“, fragte sie und lächelte ihn versöhnlich an.

Bild: Pixabay

Text: Timothy Klaffke, Natalie Meleri, Laurent Oberson, Aline Zengaffinen, Katharina Schatton