Wir Schweizer*innen lieben Käse und Schoggi, unsere direkte Demokratie und Neutralität und das Matterhorn. Stimmt das? Und wer soll überhaupt dieses Wir sein?

Die Wir-Rhetorik ist beliebt in Zeiten von Corona: «Wir müssen jetzt zusammenhalten», «Wir müssen einander Sorge tragen». Dieses Wir ist im Moment vielleicht breiter gefasst als oft zuvor. Nicht selten hiess es nämlich in gesellschaftlichen und politischen Debatten stattdessen «wir Schweizer*innen». Wer wird in dieser nationalen Identität mitgefasst und wer wird ausgegrenzt?

Die Formung der nationalen Identität

Auf der offiziellen Webseite der Eidgenössischen Migrationskommission wird die nationale Identität wie folgt beschrieben: «Die Förderung der nationalen Identität beschränkt sich nicht auf die «Definition» der Staatsangehörigkeit. Nationalstaaten sind bestrebt, eine «nationale Kultur» zu schaffen, welche das «Staatsvolk» als eine kulturell homogene Nation erscheinen lässt.» Die entsprechenden Papiere zu haben, scheint also nicht auszureichen, um zum Wir zu gehören. Stattdessen ist die Rede davon, aktiv eine nationale Kultur aufzubauen. Eine nationale Identität ist somit auch etwas Konstruiertes, eine Geschichte, die wir selbst erzählen und verändern. Dazu kann vieles gehören: Werte, ein Entstehungsmythos des Landes, gewisse Bräuche, aber auch Musik und Kleider. Oftmals wird uns all das präsentiert, als sei es ganz von alleine so entstanden und nicht aktiv geformt worden. Ein Blick in die Vergangenheit überzeugt vom Gegenteil.

Geistige Landesverteidigung

Die Geschichte der Schweizer Identität wurde immer wieder vorsätzlich umgeschrieben oder erweitert. Tradition ist nicht nur geworden, Tradition wurde gemacht. Besonders in Krisensituationen galt das Vermitteln einer gemeinsamen nationalen Identität als Erfolgsmittel, um das Wir zu stärken. Ein beeindruckendes Beispiel des bewussten Einsatzes dieses Mittels sind die Landesausstellungen, auch Landis genannt.

Die Landi von 1939 fiel in die Anfangszeit des Zweiten Weltkrieges und wurde stark genutzt für die sogenannte «Geistige Landesverteidigung». Die Schweizer Verbundenheit sollte gestärkt werden, die Werte und Bräuche gefestigt. Man betonte ein Bild der Schweiz als Volk von Bergbäuer*innen, das schon lange nicht mehr der Realität entsprach. Ein Trachten- und ein Schwingfest illustrierten dieses Bild eindrücklich.

1964 an der Landesausstellung in Lausanne, inmitten des Kalten Krieges also, gab es den Riesen Gulliver, der den Besucher*innen mit der Auswertung eines von ihnen ausgefüllten Fragebogens aufzeigte, wie ihr Bild der Schweiz im Vergleich zu anderen dastand. Die Fragen ergeben ein Abbild dessen, was als schweizerisch galt: «Kann man ein guter Schweizer sein und erst um 9 Uhr aufstehen?» Vierzig Prozent meinten Nein. Ganze 53 Prozent waren der Ansicht, man könne kein «guter Schweizer» sein, ohne gleichzeitig ein guter Soldat zu sein. Leider sind heute nur die Antworten auf einen kleinen Teil der Fragen auffindbar, weil der Bundesrat eine Auswertung der Antworten verbot. Sie scheinen wohl nicht seinem Verständnis der nationalen Identität entsprochen zu haben.

Auch die Landesausstellungen dienten als Mittel zur Bildung nationaler Identität.

Nationale Identität und Migration

Die nationale Identität besteht immer auch in der Abgrenzung zum «Anderen»: Das ist unsere Kultur, das die Ihre. Was aber, wenn man in die Schweiz einwandert aus einem Land, das zu einem solchen «Anderen» gehört?

Laut dem Freiburger Psychologen Alain Bochud können die Reaktionen auf eine Konfrontation mit der neuen nationalen Identität sehr unterschiedlich ausfallen. Sie lassen sich aber mit der Theorie des Kinderpsychiaters und Psychotherapeuten Jean-Claude Métraux grob in vier verschiedene Integrationsmodelle einteilen, je nachdem, wie mit dem Spannungsfeld zwischen der Herkunftskultur und der Schweizer Kultur umgegangen wird.

Die eine Reaktion, bei der man die Kultur seines Herkunftslandes komplett ablehnt, ist die Assimilation. Für viele Schweizer*innen sei Integration auch heute noch synonym mit Assimilation, meint Alain Bochud. «In der Hoffnung auf eine verbesserte Situation oder weil sie tatsächlich herzlich empfangen wurden, passen sich manche Migrant*innen in allen Aspekten komplett der Schweizer Kultur an. Sie werden quasi schweizerischer als die Schweizer*innen», beschreibt Alain Bochud diese Reaktion. Die gegenteilige Reaktion ist die Ghettoisierung, bei der man die Kultur des Landes, in das man immigriert, komplett ablehnt und an der Kultur des Herkunftslandes festhält. Laut Bochud komme es vor allem dazu, wenn die Migrant*innen Angst hätten, ihre bisherige Kultur zu verlieren.

Das dritte Integrationsmodell tritt auf, wenn Menschen sowohl die Herkunftskultur wie auch die Schweizer Kultur ablehnen, was zu einer doppelten Marginalisierung führt. «Oftmals trifft das auf die zweite Generation zu. Die Kinder der Migrant*innen fühlen sich hin- und hergerissen zwischen den zwei Kulturen und lehnen aus der Sorge, einer gegenüber illoyal zu sein, als Gegenreaktion beide ab», erklärt Alain Bochud. «Die Auswirkungen davon sind nicht zu unterschätzen. Migrant*innen der zweiten Generation sind überrepräsentiert in den Statistiken zu psychischen Problemen und Drogenabhängigkeiten.»

Psychologe Alain Bochud

Zuwanderung als Chance

Das Leben mit zwei verschiedenen Kulturen kann aber auch eine Chance sein. So beim vierten und laut Jean-Claude Métraux idealen Integrationsmodell der kreativen Integration. «Die Eingewanderten suchen sich aus beiden Kulturen das Beste aus und kreieren so ihre eigene Kultur. Nicht nur die Migrant*innen selber profitieren davon, sondern auch die Schweiz.» So beeinflussen die Zugewanderten auch stets die nationale Identität der Schweiz. Die Trachten, die Musik und die Entstehungsmythen haben nicht mehr viel mit der heutigen Schweiz zu tun, insofern sie überhaupt jemals der Wirklichkeit entsprachen. Bochud meint dazu: «Wir verändern uns so schnell, dass wir uns der Veränderung manchmal gar nicht bewusst sind. Die Geschichte, die uns in der Schule über die Schweizer Identität erzählt wird, ist veraltet. Unter anderem dank der Migration sind wir längst keine Klischee-Schweizer*innen mehr. Mit und dank den Zugewanderten sind wir alle zu Überschweizer*innen geworden.»


Der Psychotherapeut Alain Bochud arbeitete während acht Jahren mit Süchtigen, dann zehn Jahre als Schulpsychologe; er ist ausserdem seit zwei Jahren für die Association Ensemble Fribourg tätig. Dort bildet er Migrant*innen im Verständnis und Umgang mit Gewalt aus, damit sie das Erlernte in ihren jeweiligen Gemeinschaften anwenden können.

Text: Smilla Schär
Bilder: 
ETH Bibliothek Zürich, ZVG