Ob vor zwanzig Jahren mit seinem Gitarren-Soloprojekt Jack Stoiker oder seit kurzem als Frontmann der Punkrockband Knöppel – Daniel „Midi“ Mittag ist Ostschweizer Kulturgut. Seit seinem Studium lebt er in Freiburg. Ein Gespräch über das Leben zwischen Spielplätzen und Konzertbühnen.
In der Ostschweiz bist du eine Kultfigur – kannst du hier in Freiburg unerkannt in der Fussgängerzone einen Kaffee trinken?
Ich kann mich eigentlich überall in der Schweiz ohne grosse Schwierigkeiten bewegen, solange ich nicht an einem Anlass mit Betrunkenen bin. Erst dann merke ich jeweils, dass mich doch einige Leute kennen. In Freiburg habe ich grundsätzlich meine Ruhe, was mir auch in Bezug auf meine Familie gelegen kommt. Wenn ich dann trotzdem einmal erkannt und um ein Selfie gefragt werde, tut dies meinem Ego in diesem Ausmass noch gut.
Fühltest du dich je berühmt?
Nein – ich habe ja erst in Freiburg angefangen, Musik zu machen, welche auf einen grünen Zweig kam. Populär wurde ich eigentlich erst, als ich aufhörte aktiv zu sein. Zu jenem Zeitpunkt sickerte meine Musik in die Ostschweizer Folklore durch. In St. Gallen sind wir als Knöppel sicherlich bekannter als in Freiburg, aber da bin ich sowieso äusserst selten unterwegs.
Obwohl du erst hier richtig mit der Musik begonnen hast, waren deine Themen schon damals ziemlich Ostschweiz-lastig.
Das ist so. Als Student war ich in einer Blase, die nicht viel mit der Freiburger Bevölkerung zu tun hatte. Es vergingen sicher zehn Jahre, bis ich überhaupt das Gefühl hatte, dazuzugehören. Es gab einen Moment am Ende des Studiums, als praktisch alle Studienkolleginnen und -kollegen nach Zürich zogen, um zu arbeiten – plötzlich hatte ich in Zürich mehr Bekannte als in Freiburg. Erst seit ich Familie habe, bin ich tatsächlich in Freiburg angekommen.
Hast du also damals nicht einmal bewusst Ostschweizer Themen besungen?
Als Jack Stoiker war meine Musik sowieso unreflektiert. Ich sang halt aus einer typischen Sichtweise, die man nur besass, wenn man die Jugend in der Ostschweiz erlebt hatte. Ich kokettierte schon damals gerne mit meinem St. Galler-Dialekt, aber erst seit Knöppel achte ich darauf, dass ich keine Dialekt-Fehler mache. Da ich vor mittlerweile „föfezwanzg“ Jahren St. Gallen verliess, enthält meine Sprache verschiedene Dialekteinflüsse. Deshalb muss ich aufpassen. Für die Zahl Fünf benutze ich in meinen Liedern konsequent „föf“ und nicht „füüf“. Diese Dialektbewirtschaftung hat aber eigentlich erst mit einem einsetzenden Heimweh und der Gründung der Band Knöppel begonnen.
Fühltest du dich während deiner Studienzeit als Repräsentant der Ostschweiz?
Ursprünglich kam ich eher nach Freiburg, um die Ostschweiz ein wenig abzuschütteln. Ich war in St. Gallen in der linken Szene unterwegs, wo wir eine gewisse Borniertheit und Überpolitisierung pflegten und war deshalb rückblickend froh, dass ich hier ein wenig aus diesem Loch rauskam. Es ging sehr lange, bis ich St. Gallen zu vermissen begann.
Musstest du manchmal aufpassen, dass du mit deiner Musik keine Klischees und Stereotype über die Ostschweiz bedientest?
Vielen Ostschweizern und Ostschweizerinnen ging es hier auf den Wecker, dass sie immer auf ihr Minderheitendasein angesprochen wurden und man versuchte, ihren Dialekt zu imitieren. Diese Probleme hatte ich nie; wohl auch, weil ich genug andere „Chnörz“ in meinem Leben hatte. Mit den Jahren nervte mich dann dieses allzu zivilisierte Freiburgische und mir begann die Ostschweizer Bodenständigkeit zu fehlen.
Inwiefern hat dich Freiburg geprägt?
Momentan lebe ich mit meiner Familie in einer Neubausiedlung mit sechzig Wohnungen, welche etwa zu einem Drittel von Deutschschweizern und -schweizerinnen und zu zwei Dritteln von Frankophonen bewohnt wird. Der Röstigraben innerhalb dieser Siedlung in Freiburg ist fantastisch. Auch wenn die Sorgen der jeweiligen Sprachgemeinschaften im Wesentlichen dieselben sind, bemerke ich in der Organisation und dem Konzept des Zusammenlebens grosse Unterschiede. Diese Mentalitätsunterschiede finde ich schon toll. Man muss deshalb gar nicht nach St. Gallen, um ein gegenseitiges Verständnis zu schaffen – es reicht eigentlich schon, als Deutschschweizer in Freiburg zu leben!
Wie war das Gefühl, einer (Sprach-)Minderheit anzugehören?
Schon mein ganzes Leben habe ich das Gefühl, in der Minderheit zu sein. Auch vor meinem Umzug nach Freiburg, als ich in St. Gallen in der linken Szene verkehrte, fühlte ich mich nie als Normalo. Das ist aber auch das Tolle an der Schweiz: Hier gehören alle auf eine Art zu einer Minderheit.
Fühlst du dich immer mittlerweile etwas gesetzter?
Ja, so ist es halt, wenn du und alle deine Kollegen und Kolleginnen Kinder haben. Wenn du das erste Mal einen Kinderwagen schiebst, bist du in der Gesellschaft angekommen. Ich fand das super. Ich glaube aber, die Deutschschweiz hat fortschrittlichere Konzepte, gerade in Bezug auf das Quartier- und Familienleben, welche in der lateinischen Schweiz noch nicht angekommen sind.
Inwiefern?
Man hat Genossenschaftswohnungen und lebendige, linke Quartiere mit Fähnchen zwischen den Häusern und Kindern, die draussen spielen. Eine kultivierte Unordnung. Während in unserer Siedlung viele Deutschsprachige den gemeinschaftlichen Raum und die Grünflächen in Beschlag nehmen, empfinden viele Frankophone dies eher als aufdringlich. In der Deutschschweiz gibt es auch die cooleren Spielplätze.
Hättest du gedacht, dass du dir je über diese Themen Gedanken machen wirst?
Sicher nicht. Ich fand schon den Gedanken, Kinder zu haben, absolut schrecklich. Das war für mich so weit weg. Gerade deshalb fand ich es sehr gut, dass ich für das Studium aus meiner Komfortzone rauskam und wegzog. So konnte ich in eine ganz andere Seite der Schweiz entdecken.
Spieltest du während deiner Studienzeit auch mit dem Gedanken, eine Rockstarkarriere zu machen?
Das hat mich schon sehr gereizt, obwohl damals alles extrem unprofessionell war.
Manchmal habe ich noch heute das Gefühl, dass du dich eigentlich nicht professionell vermarktest.
Damals hätte ich mich wahrscheinlich schon besser vermarktet, wenn ich denn gekonnt hätte. Aber ich war einfach zu chaotisch. Heute ist mein Marketing eigentlich absichtlich schlecht. Wenn du dich schlecht vermarktest, ist das eine tolle Situation: Du kommst immer aus einem gewissen Understatement heraus und kannst die Erwartungen tief halten. Wenn deine Songs besser sind als dein Marketing, gibst du gerne Konzerte. Die schlimmsten Bands sind diejenigen, welche auf ihrer ersten Platte einen Hit hatten und danach mit diesem einzigen Song, der beim Publikum funktioniert, auf Tournee gehen.
Das Understatement ist gewissermassen auch Teil des Images von Knöppel.
Es ist vor allem auch typisch Ostschweiz. Das Understatement ist wahrscheinlich sogar das Beste an der Ostschweiz! „Plöffer-Schnellficker-Scheiss“ ist nicht so unsere Sache.
Euer Song „Prada“ wurde letztes Jahr zum besten Schweizer Rock-Song gewählt. Kannst du dir eine Band vorstellen, die dies von einem ihrer eigenen Lieder behaupten würde?
Das würde auf jeden Fall nicht gut ankommen. Bescheidenheit ist ja in der ganzen Schweiz wichtig, aber die Ostschweizer betreiben sogar innerhalb des Landes noch am meisten Understatement.
Du warst ja auch auf dem letzten Baschi-Album mit einem Feature vertreten. Wie verbunden fühlst du dich mit der Schweizer Musikszene?
Baschi hat mich angefragt, ohne dass wir uns vorher kannten, wobei ich mit seinem Produzenten bereits zu tun hatte. Das war dann auch ganz lustig. Ich gehöre aber eigentlich gar nicht zur Szene. Ich bin kein Musiker, ich bin Informatiker.
Willst du bewusst kein Teil der Musikbranche sein?
Während meiner Studienzeit habe ich im Fri-Son an der Bar gearbeitet und hatte da auch eine Jahreskarte. Damals war ich an so vielen Konzerten, dass meine Lust darauf dann irgendwann ein bisschen verging. Heute spiele ich selber mehr Konzerte, als dass ich welche besuche. Zudem habe ich auch eine etwas altmodische Herangehensweise bei Songwriting und der Musikgeschmack in Freiburg ist nicht wirklich Knöppel-kompatibel.
Inwiefern?
Wir machen mit Knöppel in einer einfachen Besetzung und mit relativ klassischen Songstrukturen Punkrock.
Wie stark prägst du persönlich die Band?
Knöppel ist grundsätzlich ein Ein-Mann-Unternehmen. Erst wenn ich die Demos bereit habe, sende ich diese an Marc [Bassist] und Zosso [Schlagzeuger]. Wenn ich einen Song kreiere, dann schreibe ich ihn für die Band Knöppel und anschliessend spielen wir ihn gemeinsam. Dadurch entsteht, wie bei einem Instrument, eine gewisse Resonanz und schlussendlich ein gemeinsamer Sound. Die Texte und die Akkorde mach ich jedoch komplett alleine. Und obwohl ich eigentlich nie mit anderen Musikern jamme, genoss ich die Zusammenarbeit mit Baschi extrem. Auch Gustav kenne ich, allerdings eher als Nachbar und weniger als Musiker.
Man sieht dich auch nie an Anlässen mit viel Prominenz wie dem Swiss Music Award.
Dafür wurde ich sogar angefragt und hätte auch Lust gehabt. Schliesslich haben mir jedoch alle abgeraten, weil die Awards „huere“ langweilig seien. Teilweise reizt es mich schon – ich habe einen gewissen Ehrgeiz und stehe auch gerne im Rampenlicht. Gleichzeitig muss ich schauen, dass ich Knöppel ein wenig von der Cervelatprominenz-Schiene fernhalte, was auch sehr wichtig für die Band ist. Selbst wenn ich ein anderes Leben hätte und überall Klinken putzen gehen und Interviews geben würde, täte das der Musik nicht unbedingt gut.
Bist du folglich mit eurer aktuellen Bekanntheit zufrieden?
Die ist gerade etwa richtig. Meine Referenzen waren von der Grösse her immer die Grabenhalle– [Konzertlokal in St. Gallen] und Fri-Son-Szene, wobei eigentlich auch das volle Fri-Son zu krass ist. Ein Publikum von hundert bis dreihundert Leuten ist mir am liebsten.
Hast du den Eindruck, dass dein Auftreten vor mehr Leuten an Authentizität verliert?
Es ist mehr Herz bei der Sache, wenn ich und das Publikum aufeinander angewiesen sind. Obwohl es schwieriger und anstrengender ist, sind letztendlich mehr Innereien dran. Sobald ich aufgrund von Frontscheinwerfern die Leute nicht mehr erkennen kann, verliert man den Kontakt mit dem Publikum.
Eure Songs haben viele Ostschweiz-Bezüge, aber dein Wohnort Freiburg bleibt quasi unerwähnt. Wie kommt das?
Seit ich St. Gallen gegenüber ein wenig nostalgisch geworden bin, streue ich gerne ein paar Grüsse an die Heimat ein und singe über Schüga [Biermarke] oder Uzwil [St. Galler Dorf]. Auch dass das Wort „Wichser“ so präsent ist, ist eigentlich eine einzige Hommage an den Umgang unter Ostschweizer Männern. Man nennt sich beim Nachnamen und grüsst sich mit „Hey du Wichser“, was ja eigentlich ein Kompliment ist. Wer ein Wichser ist, ist keine Pussy. Daher kann man unser erstes Album „Hey Wichsers“ schon als eine Art Heimatalbum sehen.
Könntest du deine Art zu texten, welche ja ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal ist, überhaupt ändern? Gibt es irgendwann einmal ein ausgefeiltes politisches Album?
Eine solche Platte wird’s nicht geben. Ich bin kein unpolitischer Mensch, würde Politik jedoch nicht als Musik verkaufen wollen. Manchmal beginne ich nebenher auch Songs, welche nicht auf der Stoiker- oder Knöppel-Schiene sind. Diese Texte schreibe ich gerne, würde aber selbst nicht damit auftreten. Letztlich habe ich ja eine Schublade gefunden, welche allen Beteiligten Spass macht.
Du hattest eine lange künstlerische Pause. Weshalb hast du nach über zehn Jahren Absenz wieder begonnen, Musik zu machen?
Angefangen hat es eigentlich damit, dass mir im Büro langweilig war und ich mit einem Arbeitskollegen die Idee hatte, das amerikanische „motherfucker“ einzuschweizern, womit wir wieder beim „Wichser“ wären. Ich wusste aber nicht, ob meine Art des Songwritings und mein Humor auf fruchtbaren Boden fallen würden. Auf Punk-Rock hatte ich sowieso schon länger Lust – endlich einmal verzerrte Gitarren statt des Stoiker-typischen Geschrammes. Schlussendlich führte diese Mischung zu einer ganzen Platte und die nächste ist bereits in Arbeit.
Hättest du gedacht, dass du trotz jahrelangem Unterbruch sofort wieder von deinem Jack Stoiker-Kultstatus profitieren konntest?
Ich war angenehm überrascht, wie schnell Jack Stoiker zur Vorgruppe von Knöppel wurde. Es war von Anfang an geplant, die Bekanntheit von Jack Stoiker zu nutzen, um Promo für unsere Band zu machen, weshalb ich auch jeweils mein eigenes Vorkonzert spielte. Dies hat überraschend gut geklappt.
Gibt es ein Thema, dass du gerne noch zu einem Song verarbeiten würdest?
Eigentlich nicht. Neunzig Prozent meiner Lieder – vor allem derjenigen, auf die ich stolz bin – drehen sich um Themen, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Je nutzloser ein Song ist, desto besser. Je weniger ich mich noch erinnere, wie ich auf diesen Scheiss kam, desto besser.
Wie kommst du denn jeweils auf diesen Scheiss?
Keine Ahnung. Meistens beginne ich mit dem Refrain. Wenn ich durch mein normales Leben gehe, läuft immer eine Art Rekorder mit, der meinen Blödsinn oder das schlaue Zeug dann aufzeichnet. Falls ich dann zum Beispiel den Satz „Hend weg vo mim Sack“ höre, kommt mir gleich eine Hook-Idee.
Setzt du dich nie hin und zwingst dich, etwas zu schreiben?
Die Themen sind zwar aus dem Leben gegriffen, aber irgendwann muss man sie natürlich zu Papier bringen. Meistens brauche ich für einen Song mehr als einen Anlauf. Die dazu passende Musik komponiere ich in der Regel erst, wenn der Text steht.
Eine Umfrage auf der Spectrum-Redaktion zeigt, dass viele Leute noch nie etwas von euch gehört haben. Wie erklärst du diesen, warum sie euer kommendes Album auf keinen Fall verpassen dürfen?
Persönlich halte ich Knöppel für relativ poppig. Klar, unsere Aufnahmen sind etwas rotzig, aber ansonsten gibt es eine simple Struktur mit Strophen und Refrains, die man sich merken kann. Der Text ist natürlich auch sehr wichtig. Unsere Musik hat ausserdem viel Tempo, man wird auf allen Kanälen bedient. Was ich auch mag, ist, dass wir unseren Sound nicht gross produzieren und er daher so roh wie nur möglich bleibt. Wir sind die bittere Zutat eines Cocktails, die einem hilft, die ganzen Nettigkeiten runter zu gurgeln und die Verdauung ein bisschen anzukurbeln.