Was die Zukunft bringt, steht in den Sternen. Oder vielleicht auch in den Karten, die Orietta Crescentini für ihre Kund*innen legt.
Bei der Suchanfrage spuckt Google eine Vielzahl an Ergebnissen aus: Es wimmelt in «deiner Nähe» nur so von Hellseher*innen, Kartenleger*innen oder sogenannten Engelmedien. Offenbar besteht eine grosse Nachfrage nach Lebensberatung metaphysischer Art. Meine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet sind hingegen sehr beschränkt. Als ich Orietta Crescentinis Nummer wähle, brennen mir hundert Fragen zum Alltag einer Hellseherin auf der Zunge.
Doch ich muss mich mit meinen Fragen etwas gedulden. Frau Crescentini berät zwar seit elf Jahren Menschen zu deren Zukunft, aber an diesem Morgen sitzt sie in einem Sozialversicherungsbüro. Der Kontrast zwischen ihrer Leidenschaft als Kartenlegerin und ihrem Vollzeitjob im Büro sorgt bei ihr für Balance und bei mir für Verblüffung. Sie bittet mich höflich, sie nach Feierabend wieder anzurufen.
Ein unbeschriebenes Blatt
Als sie später an dem Tag meinen Anruf annimmt, folgt die zweite Überraschung: Sie hat sich meinen Namen gemerkt. Von ihrer Kundschaft weiss sie am liebsten nur Name und Telefonnummer – falls sie den Termin verschieben muss. Vor einer Beratung will sie gar nichts über das Thema wissen, das ihre Kund*in umtreibt. «So habe ich ein unbeschriebenes Blatt vor mir», erklärt sie mir auf Berndeutsch.
Die Beratungen finden auf gemieteter Fläche und nicht bei ihr zu Hause statt. «Der Raum soll von der Energie her – wenn man das so sagen kann – ein neutraler Ort sein.» Beratungen per Telefon lehnt sie ab, denn beim Kartenlegen will sie den Menschen in die Augen sehen können. Im Moment bedeutet das, dass die Beratungen mit Maske und Abstand stattfinden müssen. Der Ablauf ist aber noch derselbe wie vor der Pandemie: Die Leute kommen an, setzen sich, trinken etwas und führen ein wenig Smalltalk. Erst wenn sie sich wohlfühlen, kommen die Karten zu Wort.
Kein Guru und kein Göttin
Frau Crescentini verwendet für ihre Legungen Lenormandkarten. Benannt sind diese nach einer französischen Wahrsagerin aus dem 19. Jahrhundert und auch die Bilder auf den Karten erinnern an den damals üblichen Biedermeierstil. Für Frau Crescentini ist es, als würde sie ein Buch aufschlagen und die Lebensgeschichte der Kund*innen nachlesen. «Ich sehe die Bilder und beschreibe, was ich sehe. Dann fügt sich alles zusammen wie ein Puzzle.» Je nach Reihenfolge und Konstellation kann für sie ein und dasselbe Bild verschiedene Bedeutungen annehmen. Wenn sie die Karten legt, fühlt sich Frau Crescentini inspiriert. Sie lächelt: «Von Engeln oder vom Universum, wenn man so will.» Auch, dass sie nicht besonders religiös ist, überrascht mich.
Nachdem sie die Karten gelegt hat, bespricht sie mit ihrer Kundschaft, was diese beschäftigt. Meistens kommen Menschen mit konkreten Fragen über die Zukunft ihrer Beziehungen, ihres Studiums oder Berufs zu ihr. Es sei schön zu sehen, wie treffsicher die Karten seien. Trotzdem fordert sie alle ihre Kund*innen auf, die Karten «spielerisch» anzugehen und nicht allzu ernst zu nehmen: «Kein Mensch ist ein Guru oder eine Göttin, die über andere bestimmen kann.» Die Kund*innen sollen aus der Beratung mitnehmen, was sich für sie «stimmig» anfühlt.
Neue Horizonte
Allzu sehr sollte man sich von den Karten nicht abhängig machen. Um Abhängigkeiten zu vermeiden, empfängt Crescentini selbst ihre Stammkund*innen nicht öfter als viermal pro Jahr. Ihre Beratung solle immer nur eine Unterstützung sein. Sie lege aus ähnlichen Gründen auch keine Karten zum Thema Gesundheit, denn das könne Angst machen, was wiederum zu Abhängigkeit führe.
Mit ihren Karten will Frau Crescentini den Menschen Mut für die Zukunft mitgeben. Natürlich sind die Karten, die sie legt, nicht immer positiv. Das Leben bleibe schliesslich ein «Lehrblätz». Doch wie sie es auch auf ihrer Webseite (in dezenten Grün- und Beigetönen gehalten) schreibt, möchte sie den Menschen gerne «neue Horizonte» eröffnen. Ob Orietta Crescentini tatsächlich in ihren Karten die Antworten auf die Fragen ihrer Kundschaft findet, weiss ich nach diesem Gespräch nicht. Doch sie hat mich mit ihrer offenen und bodenständigen Art mehr als einmal beeindruckt. Meinen Horizont hat sie mit diesem Telefongespräch ein wenig erweitert – ganz ohne Karten.