Trigger-Warnung: Suizid, Gewalt an Kindern

Fotografien von Gewalt begegnen uns in vielen Medien. Aber was machen sie mit uns? Oder vielmehr: Was machen wir mit ihnen?

«The vulture and the little girl» ist die Fotografie eines sudanesischen Kleinkindes, das auf dem Weg zu einer Lebensmittelstation zusammengebrochen ist. Im Hintergrund sitzt ein Geier, scheinbar auf den Tod des Mädchens lauernd. Der abgemagerte Körper und die zusammengesunkene Haltung lassen darauf schliessen, dass der Vogel nicht mehr lange warten muss.

Die Fotografie wurde 1993 während der Hungersnot im Sudan vom südafrikanischen Fotografen Kevin Carter aufgenommen. Zwanzig Minuten verbrachte er damit, das Mädchen und den Vogel zu fotografieren und hoffte dabei, dass der Geier seine Flügel spreizen würde, um ein noch beeindruckenderes Foto schiessen zu können. Er wartete vergeblich, doch die Fotografie verwandelte sich trotzdem über Nacht in ein weltberühmtes Symbol für die Not im Sudan. Gleichzeitig warf sie eine grosse Kontroverse zur Rolle der Gewaltfotografie auf: Wieso hatte Carter das sterbende Kind fotografiert, statt es zu retten? 1994 gewann Carter für die eindrückliche Fotografie den Pulitzer-Preis Zwei Monate später nimmt er sich das Leben.

Fotografie im Journalismus

Ob in der gedruckten Zeitung oder online – die Fotografie gehört zum Journalismus. Dort nimmt sie allerdings eine zweitrangige Position ein. Sie soll keine neuen Informationen vermitteln, sondern illustrieren, was im Text beschrieben wird. Wir schätzen Worte für ihren rationalen Inhalt und Bilder für die Gefühle, die sie hervorrufen. Obwohl Fotografien inszeniert und manipuliert werden können, wirken sie naturgetreu. Sie werden zu Zeugen: Ja, ein*e Journalist*in war da und hat das alles gesehen.

Die Fotografie des im Staub zusammengesunkenen Mädchens sorgte weltweit für Empörung. Doch ihre Geschichte haben wir nie erfahren. Wir wissen nicht, ob sie es zur Lebensmittelstation geschafft hat. Ob sie überlebt hat. Die Artikel, neben denen das Bild erschien, berichteten von der Hungernot im Allgemeinen. In Verbindung mit unzähligen Artikeln zur Hungernot im Sudan verwandelte sich der abgemagerte Kinderkörper in ein Symbol.

Atrocity Photography

Carter schrieb in seinem Abschiedsbrief, dass ihn die Bilder des Leids und der Gewalt, denen er bei seiner Arbeit begegnet war, verfolgten. In der Medienforschung nennen sich solche Fotografien grosser Gewaltsamkeit oder Leidens «Atrocity Photography» oder auch Gewaltfotografie. Auch die Fotografie aus dem Sudan gehört in diese Kategorie, da die Hungersnot als direkte Folge des Bürgerkriegs eine Form der Gewalt war, die den Menschen im Sudan angetan wurde.

Abbildungen von Menschen in Not sind nicht neu. Bereits antike Kunstwerke beschäftigen sich mit dieser Thematik. Dabei kann man das geübte Auge und das Geschick der Kunstschaffenden bewundern. Fotografierte Gewalt verhält sich jedoch anders als gemalte. Sie zeigt die tatsächlich erlebte Qual eines echten Menschen.

Das ist es auch, was die «Atrocity Photography» so umstritten macht. Wie im Falle des sudanesischen Kindes kann sie eine symbolische Rolle übernehmen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich immer auch um konkretes Leid handelt. Das kann Mitleid, Verantwortungsgefühl und Empörung hervorrufen. Doch genauso wahrscheinlich ist es, dass es Schaulust in uns weckt.

Räume der Gewalt

Eine Fotografie kann so schrecklich sein, dass man kaum wegschauen kann. Man kann nicht glauben, was man sieht. Solche Gewaltsamkeit gibt es in unserer Erfahrungswelt nicht. Der deutsche Gewaltforscher Jörg Baberowski schreibt dazu in seinem Buch Räume der Gewalt: «Denn der Glaube, dass Gewalt unter allen Umständen abweichendes Verhalten ist, hilft ihnen [Menschen, die in Frieden leben], sich ihre Wirklichkeit als einen Raum vorzustellen, in dem das Argument über die Faust triumphiert.»

Gewalt ist eine reale Option menschlichen Zusammenlebens und ist es schon immer gewesen. In westlichen Demokratien wurde die Gewalt soweit domestiziert, dass wir ihr im öffentlichen Raum selten begegnen. Stattdessen findet sie in Gefängnissen, Kriegen und fernen Ländern statt. Sie stösst Menschen zu, die sich durch ihre Ethnie, politische Einstellung oder Religion von uns unterscheiden. Die Fotografie eines hungernden Mädchens, das nackt im Staub liegt, mag schockieren. Doch gleichzeitig bleibt es für uns unvorstellbar, dass uns oder Menschen, die uns nahestehen, ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Das Mädchen befindet sich in einem Raum, der nicht nur geografisch, sondern auch emotional weit weg liegt: in einem Raum der Gewalt.

Pornographie des Leidens

Die Distanz zwischen dem Raum der Betrachter*in und des abgebildeten Subjekts scheint unüberbrückbar. Gelebtes Leid ist nie vergleichbar mit fotografiertem Leid. Die Medienwissenschaftlerin Dr. Sharon Sliwinski schreibt über die Shoa-Fotografien, die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden: «The public bore witness in 1945, but they did not know what they had seen.» Keine Fotografie der Welt erlaubt es Betrachtenden, das Leid wirklich zu verstehen und zu tatsächlichen Zeug*innen zu werden.

Für viele, die sich mit «Atrocity Photography» auseinandergesetzt haben, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, solche Fotografien zu zeigen. Sie decken intimstes Leid auf und machen es öffentlich. Der neugierige Blick der Betrachtenden setzt die Gewalt fort, die das Opfer ohnehin schon erfahren musste. Der blosse Akt des Schauens wird zur Gewalt, weil die abgebildete Person ihrer Individualität und Privatsphäre beraubt wird. Sie erfährt eine Verdinglichung; Statt Zeug*innen werden wir zu Voyeur*innen, die ihr Leid wie Pornographie konsumieren.

Politische Veränderung

Susie Linfield verteidigt in ihrem Buch The Cruel Radiance: Photography and Political Violence die Rolle der Gewaltfotografie. Sie hält solche Fotografien für essenziell, um politische Veränderungen herbeizuführen. Ein Menschenrecht kann man nicht fotografieren. Wie auch? Was aber fotografiert werden kann, ist das Fehlen eines Menschenrechts. Das sei ein erster Schritt auf dem Weg zu politischem Wandel. Carters Fotografie generierte öffentliche Aufmerksamkeit für die Lage im Sudan, nachdem diese lange weitgehend unbeachtet geblieben war.

Wenn sie gezielt eingesetzt wird, kann die «Atrocity Photography» als journalistisches Werkzeug dienen, um Unrecht anzuprangern. Von einem solchen gezielten Einsatz sind wir in den Mainstream-Medien noch weit entfernt. Gewaltfotografien tauchen auch da auf, wo sie weder nützlich noch angebracht sind. Immer wieder aufs Neue fordern sie uns heraus, entweder als Feiglinge den Blick zu senken oder als Voyeur*innen ihrer Faszination zu verfallen. Die Gewaltfotografie wühlt uns auf, weil sie an der Würde des fotografierten Menschen rührt. Die Herausforderung ist, dieser Würde mit Respekt zu begegnen.


Buchempfehlungen zu «Atrocity Photography»

Susi Linfield, The Cruel Radiance: Photography and Political Violence, 2010.

Barbie Zelizer, About to Die: How News Images Move the Public, 2010.

Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, 2003.

Text & Illustration: Alyna Reading
Bild: Pixabay