Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, sind leider nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine Teil europäischer Realität. Die Freiburgerin Mary Wenker setzt sich seit Jahren in Griechenland für Asylsuchende ein. Im Interview mit Spectrum spricht sie über ihre Arbeit

Wie kam es dazu, dass du dich so intensiv im Flüchtlings- und Asylbereich einsetzt?

Ich hatte keine einfache Jugendzeit. Aber ich hatte Glück: Ein paar Monate vor meinen Maturaprüfungen fand mich mein Chemielehrer tränenüberströmt auf dem Weg zu mir nach Hause und lud mich auf einen Kaffee ein. Ich bin mir sicher, dass ich meinen Abschluss nicht geschafft hätte, wenn er sich in dem Moment nicht meiner angenommen hätte. Ich habe also etwas von jemandem bekommen, ohne, dass eine Gegenleistung von mir erwartet wurde. Der Wunsch, etwas zurückzugeben, prägt deshalb bis heute mein Tun und ist zu einer Art Lebensphilosophie geworden. Zu teilen und zu unterstützen gibt meiner Existenz Sinn.

 

Wie wirkt sich diese Haltung auf deine Arbeit aus?

Ich hoffe, dass die Menschen, die ich unterstütze, ähnlich reagieren. Dass sie in der Lage sind, etwas beizutragen. Viele von ihnen tun dies bereits. Hasan zum Beispiel ist selbst als Flüchtling nach Griechenland gekommen, wir haben ihn über zwei Jahre beherbergt. Heute ist sein Asylgesuch angenommen und er arbeitet als Freiwilliger eng mit ChooseHumanity zusammen. 

Ich bin der Ansicht, dass ich durch Zufall in diesem Land geboren wurde. Auch die damit verbundenen Privilegien sind uns durch Zufall zuteilgeworden und wir müssen sie teilen. Natürlich bin ich stolz auf alles, was ich in meinem Leben schon geschafft habe. Mein Studium, meine Arbeit, mein Engagement. Mein Schicksal wäre aber ganz anders verlaufen, wenn ich in Afghanistan oder in einem afrikanischen Land geboren wäre. Wir dürfen nichts als Selbstverständlichkeit ansehen und müssen uns unserer Privilegien bewusst sein.

 

Wie sieht heute der Rhythmus deiner Freiwilligenarbeit aus?

Ich bin aktuell durchschnittlich zehn Tage pro Monat in Griechenland. Fixe Projekte habe ich mit meiner Organisation ChooseHumanity nicht. Wir sind sehr flexibel und passen uns den aktuellen Umständen an, je nachdem, was gerade gebraucht wird. Deshalb hatte ich schon sehr unterschiedliche Aufgaben: Ich habe Geflüchtete bei der Ankunft von Booten in Empfang genommen, Essen und Kleider verteilt, aber auch als Therapeutin und Übersetzerin gearbeitet und kreative Workshops angeboten. Wir finanzieren auch Wohnplätze, medizinische Massnahmen und Lebensmittelgutscheine. Generell hat sich meine Arbeit weg von den Camps hin zu einem individuelleren Austausch mit Menschen auf der Flucht gewandelt. 

Wir arbeiten eng mit anderen Organisationen zusammen. Es ist wichtig unsere Kräfte zu bündeln. Dadurch entstehen auch enge Freundschaften mit anderen Freiwilligen. Das ist sehr motivierend und essenziell, um durchzuhalten.

 

«Mir ist klar, dass sich nicht alle so engagieren können, wie ich es tue. Aber wir können einander Sorge tragen.»

 

Auf was für Schwierigkeiten stösst du bei deiner Arbeit? 

Als ich zum ersten Mal in Griechenland war, dachte ich «Ah – endlich habe ich meinen Platz gefunden.» Davor hatte ich immer Probleme mit meinen Vorgesetzten. Mir wurde aber schnell klar, dass die humanitäre Arbeit ähnliche Schwierigkeiten mit sich bringt, die oft mit Machtkonflikten und Egos zu tun haben. Ich hinterfrage auch die Motive mancher Menschen: Ist man ehrenamtlich tätig, um etwas zu erleben? Um eine Rubrik in seinem Lebenslauf hinzuzufügen? Wie sieht die Hilfe aus, die man leistet? In dem Team, in dem ich arbeitete, mussten wir eine Art Verhaltenskodex unterschreiben, in dem es hiess, dass wir uns zurückhalten und die Geflüchteten nicht für geleistete Dienste bezahlen sollten. Ein Geflüchteter zum Beispiel schnitt mir die Haare und ich sah nicht ein, wieso ich ihn nicht bezahlen sollte. 

 

Weil wir in der Schweiz ja auch unseren Coiffeur bezahlen? 

Genau. Wir sind nicht da, um den Geflüchteten zu ‘dienen’, indem wir uns von ihnen distanzieren. Für mich geht es darum, zu teilen und ihnen mehr Menschlichkeit zu bieten, uns auf Augenhöhe mit ihnen auszutauschen. Zwei Erwachsene, die sich bei einer Tasse Tee oder Kaffee zum Beispiel über ihre Kinder, ihr Leben und auch ihre Werte austauschen.

Ein anderes Problem stellt für mich die oft unzureichende oder fehlende Vorbereitung und Betreuung der Freiwilligen dar. Schon die Ankunft eines Boots kann bei manchen Freiwilligen traumatisch wirken. Deshalb ist es wichtig, dass sie zu jeder Zeit mit einer Vertrauensperson sprechen können, wenn sie das brauchen und dass ihnen auch nach einem Einsatz psychologische Unterstützung angeboten wird. Auch der Austausch mit anderen Freiwilligen ist beim Heimkommen oft hilfreich.

 

Gibt es etwas, was jeder oder jede Einzelne tun kann, um zu helfen?

Natürlich kann jede und jeder spenden, der oder die etwas Geld übrig hat. Was auf jeden Fall alle tun können, ist, sich über die Situation vor Ort zu informieren, diese Informationen zu verbreiten und sich über die eigene Verantwortung bewusst zu werden. Mir ist klar, dass sich nicht alle so engagieren können, wie ich es tue. Aber wir können einander Sorge tragen. Die Augen aufmachen und sehen, wie wir handeln können, um einen – wenn auch noch so kleinen – Unterschied im Leben eines Menschen zu machen. Egal, ob das in der Schweiz oder anderswo ist. 

 

Wie siehst du die Zukunft deiner Arbeit?

Ich liebe, was ich tue. Keine Ahnung, ob ich je damit aufhören kann. Es ist schwer für mich zu sagen: «Ich habe genug getan, ich beschäftige mich jetzt mit etwas anderem.»

 


Zur Person

Mary Wenker leistete im April 2016 zum ersten Mal einen Freiwilligeneinsatz auf der Insel Chios. Im Jahr 2017 gründete sie die NGO ChooseHumanity, mit der sie sich im Flüchtlings- und Asylbereich an verschiedenen Standorten in Griechenland engagiert.

Die studierte Heilpädagogin arbeitet als Therapeutin im Kanton Freiburg. Im Jahr 2020 erschien ihr Buch «Echos de la Mer Egée. Voix des réfugiés» mit ei- nem Vorwort des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters Jean Ziegler. Das Buch erschien im Verlag L’Harmattan.

Mary Wenker ist Verfasserin zahlreicher pädagogischer Dossiers (u.a. für das FIFF) und Autorin zweier Kinderbücher: «Camille aux Papillons», in der die Geschlechtsidentität thematisiert wird und «Hasan venu d’ailleurs», das im Ver- lag Loisirs et Pédagogie erscheinen wird.

ChooseHumanity: http://choosehumanity.ch

 

Text: Katharina Schatton

Bild: ZVG