Wer war eigentlich der erste Mörder? Es war Kain, der seinen Bruder Abel kaltblütig mit einem Stein erschlug. Da wo Liebe ist, lässt Hass nicht lange auf sich warten.

 

Die Bibel erzählt uns die Geschichte von den Brüdern Kain und Abel. Kain ist immerzu neidisch auf Abel und betet für sein Unglück. Eines Tages als Gott nur Abels Geschenkgabe annimmt und die von Kain zurückweist, wird er rasend. Kain lockt seinen Bruder aufs Feld und ermordet ihn.

Auch Romulus tötet Remus, im Osiris-Mythos stirbt Osiris durch die Hand seines Bruders Seth und Shakespeare erzählt in Hamlet die Tragödie eines Brudermordes. In all diesen Erzählungen bildet die gemeinsame Blutlinie den Nährboden für Rivalität und Hass. Kunstmotiv oder Realität? Müssen Geschwister für immer Rivalen bleiben?

 

Das Entthronungstrauma

Rivalität ist der Kampf um Vorrang. Bei Geschwistern beginnt er häufig im Kleinkindalter um die Gunst der Eltern. Ausgelöst wird diese Konkurrenz durch die Geburt des zweiten Kindes. Bisher war das Erstgeborene im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit einem Geschwisterchen ändert sich dies schlagartig. Der Psychotherapeut Alfred Adler spricht um 1900 erstmals vom so genannten «Entthronungstrauma»: Das zweite Kind stösst das erste vom Thron. Als Reaktion darauf versucht das Erstgeborene, sein Revier zu verteidigen. Die Soziologin Prof. Yvonne Schützer dokumentiert in den 1980er Jahren zwei Schwestern: Eva und Laura. Als die Eltern die neugeborene Eva wickeln, steigt die ältere, zweijährige Laura auf den Wickeltisch und ruft wütend «Baby weg! Weg!». Die Eltern greifen ein, bevor Laura in die Nähe von Eva gelangt.

 

Heilt die Zeit alle Wunden?

Im Kinderzimmer entsteht also nicht nur Geschwisterliebe. In jungen Jahren ist dies normal und sogar förderlich. So lernen Kinder, sich zu wehren und werden vielleicht auch angespornt. Eva und Laura pflegen heute, 40 Jahre später, ein gutes Verhältnis. An ihre Rivalität im Kindesalter erinnern sie sich kaum noch. Allgemein wird vermutet, dass Geschwisterrivalität in Kindheit und Jugend ausgeprägter ist als im Erwachsenenalter. Leider heilt die Zeit aber nicht alle Wunden. Wenn in der Familie nicht offen kommuniziert wird, können solche Konflikte bis ins Erwachsenenalter weitergeführt werden. Was bleibt sind heftige Auseinandersetzungen, Firmenteilungen oder endgültige Funkstille. Für Betroffene sind dies meist sehr belastende Situationen.

 

Im Schatten des Geschwisters

Und welche Rolle spielen die Eltern? Wenn sie ihre Kinder vergleichen, werden Konkurrenzgefühle gefördert. «Nimm dir doch mal deine Schwester als Vorbild!», kann es etwa heissen. Bessere Noten werden gelobt, Freunde miteinander verglichen oder Zukunftspläne bevorzugt. Die Psychotherapeutin Dorothee Adam-Lauterbach meint: «Eine ungleiche Behandlung kann die Geschwisterbeziehung übers ganze Leben hinweg belasten.» Sie erklärt, dass in ihrer Praxis auch Erwachsene waren, die immer noch stark unter der Rivalität mit ihrem Geschwister leiden. Konfliktreicher seien Beziehungen zwischen ähnlichen Geschwistern. Also insbesondere gleichgeschlechtliche Geschwister und Geschwister mit geringem Altersunterschied. Hier besteht ein höheres Risiko, sich zu vergleichen oder verglichen zu werden.

 

Hänsel und Gretel

Die Familientherapeutin Bettina Brockmann betont: «Eltern sollten jedes Kind so unterstützen, fördern und behandeln, wie es den individuellen Bedürfnissen des Kindes entspricht.» Während Partner oder Freunde kommen und gehen, bleiben unsere Geschwister unsere Geschwister. Es ist eine der längsten Beziehungen, die wir im Leben haben. Umso wichtiger, dass ihr Sorge getragen wird. Von den Eltern und von den Geschwistern selbst. Es muss also nicht Kain und Abel sein, vielleicht entsteht auch eine Beziehung à la Hänsel und Gretel, aber ohne die Hexe. Ich würde es allen Geschwistern wünschen.

Text: Pauline Meyer

Illustration: Alwiya Hussein