Jean-Michel Capt ist Kunsttherapeut. Im Gespräch mit ihm in seinem Büro in Freiburg erfahre ich mehr über seine Arbeit. Im Atelier der Palliativstation gibt er Menschen, die unheilbar krank sind, die Möglichkeit, sich auszudrücken.

 

Jean-Michel Capt erklärt die Therapieform wie folgt: Kunsttherapie besteht aus zwei Teilen. Einerseits aus der Kunst, die für das Wohlbefinden sorgt. Andererseits aus der Therapie, was bedeutet, es gibt eine*n Therapeut*in. «Das nennt man auch die Verwendung eines Mediums, um verschiedene Emotionen auszudrücken.» Bei der gängigen Psychotherapie nutzen die Psycholog*innen mehrheitlich eine verbale Ausdrucksweise. Dagegen gehört die Kunsttherapie zu der Familie der Musik- und Tanztherapien. Die Emotionen werden also auf kreative Weise verarbeitet. In einer Kunsttherapie stellt die Therapeut*in – im Gegensatz zur gängigen, verbalen Therapie – nur ein bis zwei Fragen zum Wohlbefinden der Gesprächspartner*in an diesem Tag.

Dies heisst nicht, dass die Therapeut*in keine Lust zum Gespräch hat, sondern dass die Kunsttherapeuten den emotionalen Ausdruck als Aufgabe des kreativen Prozesses und der Kreation selbst ansehen. So kann die Person ihre Situation und ihre Zukunft ausdrücken, in der sie sich befindet und die teilweise unausweichlich wirkt. Das heisst, die Person setzt sich beispielsweise der Emotion Wut aus und lässt los, um sich danach ein Stück leichter zu fühlen. Dadurch kann sich die Person an der Seite des Therapeuten weiterentwickeln. «Dies wird auch als ein Prozess der Beschwichtigung bezeichnet.»

 

Acrylfarben, Tonblöcke, Magazine und Wachsmalstifte

Um Gefühle und Emotionen kreativ umzuwandeln, gibt es im Atelier diverse Malutensilien. In einem der Schränke häufen sich Acrylfarben zum Malen, daneben Tonblöcke zum Formen und in einem der Regale stapeln sich Magazine für Collagen. Am beliebtesten seien jedoch die Wachsmalstifte, bestätigt Jean-Michel Capt und holt eine Schachtel hervor. Dies erinnert mich an die Grundschulzeit, wo sich alle Kinder im Malunterricht stets auf die Schachteln mit Neocolorstiften stürzten. Ein Grund sei, dass sich die Wachsstifte ganz leicht über das Papier bewegen lassen und dadurch einfach Formen und Muster entstehen. Dazu muss der Stift lediglich gedreht werden, um die Dicke des Strichs zu variieren und damit Tiefe zu schaffen.

 

Berge, Meer und ein Weg

Motive, welche in der Sitzung bearbeitet werden, wählt jede Person selbst aus. Die Motive werden im Atelier als Symbole bezeichnet. Als Symbol werden beispielsweise die Freiburger Berge gewählt, deren Panorama man durch das Fenster in Jean-Michel Capts Atelier sehen kann. Weiter ist auch das Symbol eines Weges beliebt. Das Symbol des Weges werfe oft die Fragen auf: Was liegt dahinter? Was kommt nach dem Tod? So handelt es sich teilweise auch um einen Weg, der sich durch die Berge schlängelt, bis er sich im Nichts verliert. Wichtig dabei ist, dass die Patient*Innen ihre Kunst zuerst interpretieren und selbst etwas in ihrem Werk erkannt haben. Erst dann äussert der Therapeut seine Ansichten. Die gewählten Symbole sind demnach subjektiv und variieren von Person zu Person.

«Man sagt, dass es drei sind: Der Patient, die Kreation und dann der Therapeut.»

 

Die Tage im Atelier

Das Büro von Jean-Michel Capt befindet sich auf der Palliativstation. Das bedeutet: Die Patient*Innen auf dieser Station sind unheilbar krank. Aus diesem Grund gibt es verschiedene soziale, psycho-soziale und spirituelle Programme mit dem Ziel, die Schmerz zu lindern und die Person zu entlasten. In der Kunsttherapie geht es weniger um die Verarbeitung der sichtbaren Beschwerden, sondern vielmehr um die unsichtbaren Dinge, welche die Patient*innen im Innern bedrücken. Mit der Kunst würden die Patient*innen sichtbar machen, was unsichtbar im Innern verborgen ist, so Jean-Michel Capt. An dieser Stelle versucht Jean-Michel Capt diesen Prozess an einem praktischen Beispiel zu erklären. Dazu legt Jean-Michel Capt die Schachtel Wachsmalstifte auf den Tisch und öffnet sie. Ich soll eine Farbe wählen, die meiner Ansicht nach die Emotion Wut verkörpert und dann darauf los zeichnen. Als ich fertig bin zeigt mein Bild eine Welle auf weissem Papier umgeben von Gekritzel. Stellt man es auf den Kopf und schaut es isch im Hochformat an, hat es Ähnlichkeiten mit einem Tornado.

Patient*Innen zur Kunsttherapie zu ermutigen, erweist sich oft als schwer. Jean-Michel Capt sagt, das sei das Schwierigste an seiner Arbeit. Er ist stets bei den Visiten der Patient*innen anwesend und mit den  Ärzten und dem Pflegepersonal im Gespräch, was als Orientierungshilfe dient. Danach besucht er die entsprechende Person in ihrem Zimmer, setzt sich zu ihr und stellt sich und seine Arbeit im Atelier vor. Er rät zu einer Kunsttherapie. Lehnt die Person das Angebot ab, versucht er es erneut und schlägt vor, dass sie zum Beispiel genau die Emotionen, die sie in diesem Moment empfindet, im Atelier kreativ verarbeiten könnte. Teilweise benötigen die Patient*innen nur etwas Zeit, bis sie plötzlich nach zwei Wochen im Atelier stehen, um zu Farbstiften und Pinseln zu greifen. Mein eigenes Bild habe ich im Anschluss an das Interview mitgenommen, denn Jean-Michel sagt, jedes Werk gehöre dem Künstler*in und ist dessen Besitz. Alles was im Atelier erschaffen wird, sei vertraulich und es liege an der Person zu interpretieren, so Jean-Michel Capt. Daher äussert Jean-Michel Capt nie seine Interpretation und notiert sich lediglich Überlegungen und Hypothesen. Interpretieren die Therapeut*innen die Werke der Patient*innen selbst, dann funktioniere die Kunsttherapie nicht, erklärt Jean-Michel Capt. In diesem Fall würde die Wahrnehmung der Patient*innen selbst verzerrt werden von den Interpretationen, Ansichten der Therapeuten und das wäre nicht rechtens. Zur Veranschaulichung zeigt mir Jean-Michel Capt die Malstaffelei, auf der noch die Unterlage klemmt und Farbspuren der verschiedenen Patient*innen zu sehen sind. Er zeigt mit dem Finger auf die Unterlage. Erst dann sehe ich, wie sich über die Zeit hinweg aus den Kritzeleien und Farbspritzern ein Strichmännchen gebildet hat. Genau dies sei der Grund, wieso Jean-Michel Capt die Werke nie als Erster interpretiert. Hätte er mich nicht darauf hingewiesen, dann hätte ich das Strichmännchen womöglich gar nicht entdeckt oder etwas anderes gesehen. Somit hat er mich mit seiner Perspektive geprägt. Sobald aber die Patient*innen von sich aus eine Symbolik in ihrer Kunst erkennen und ansprechen, geht Jean-Michel darauf ein und vertieft die Thematik mit entsprechenden Fragen. Es existiert demnach eine Art Reihenfolge, wie Jean-Michel Capt erklärt: «Man sagt, dass es drei sind: Der Patient, die Kreation und dann der Therapeut.»

Die Kunstwerke werden nach der Therapie stets sicher in einem Schrank im Atelier aufbewahrt. Fertige Arbeiten werden der Künstler*in ausgehändigt oder später den Familienangehörigen als Erinnerungsstück übergeben.

Das lichtdurchflutete Atelier, mit einem grossen Tisch am Eingang und einer Fensterfront, durch die man auf die Bergketten von Freiburg blickt, stellt eine Art Rückzugsort für die Patient*Innen dar. Einen Ort, an dem sie sich wohl und sicher fühlen und der Kreativität keine Grenzen gesetzt sind. An dieser Stelle klopft Jean-Michel Capt auf den Tisch und sagt: «Dieser Tisch hier ist auch schon kaputt gegangen, sogar zwei Mal.» Denn beim Malen, Formen und Kreieren werden unbewusst viele Emotionen ausgelöst. Die Kunst dient als Medium, das die Aufgabe der Sprache übernimmt. Das ist die Kunsttherapie.

 

Text: Ella Lory

Illustration: Alyna Reading