Philippe Knecht (23) ist Mathematikstudent an der Universität Freiburg und Mitglied der Schweizer Rettungskette. Im Februar war er acht Tage lang im Einsatz in der Provinz Hatay, Türkei.
Wenn die Erde im Ausland bebt, leistet der Bund im betroffenen Gebiet wann immer möglich humanitäre Hilfe. Dazu hat er verschiedene Einsatzmittel wie Geld- und Sachspenden sowie Soforteinsatzteams. Nach dem fatalen Erdbeben, das sich am 6. Februar in der Türkei und in Syrien ereignete, wurde die Schweizer Rettungskette mobilisiert. Das Soforteinsatzteam ist spezialisiert auf die Ortung, Rettung und medizinische Erstversorgung von Verschütteten nach Erdbeben im Ausland. Noch bevor der Tag endete, war die Schweizer Rettungskette mit einem klaren Ziel vor Ort: So viele Überlebende wie möglich aus den Trümmern retten. Unter ihnen war ein Student der Universität Freiburg. Im Gespräch mit Spectrum berichtet Philippe Knecht von seinem Einsatz.
Mobilisierung der Rettungskette in Kloten
Insgesamt mobilisierte der Bund 87 Personen für den Einsatz der Rettungskette. Viele von ihnen sind beruflich Rettungssanitäter, arbeiten im Zivilschutz oder bei der Feuerwehr. Vereinzelt finden sich unter ihnen aber auch Studierende, wie Philippe Knecht. Mitten in der Prüfungsphase, am 6. Februar, erhält Philippe um 5 Uhr morgens eine SMS: Das Aufgebot für einen möglichen Einsatz in der Türkei. Bis spätestens 10 Uhr muss Philippe seine Bereitschaft melden. Er erzählt: «Sobald wir seismische Warnsignale erhalten, wird intern in der Rettungskette alles für den Einsatz vorbereitet.» Würde man zuerst auf die Einsatzbestätigung aus Bern warten, verliere man wertvolle Vorbereitungszeit. Nichtsdestotrotz braucht es als Erstes ein Ersuchen um Hilfe durch das Land, das vom Erdbeben getroffen wurde, damit ein Einsatz stattfinden kann. Nach einem Erdbeben zählt jede Minute. Philippe ist am Morgen des 6. Februar noch auf der Skipiste. Nach drei Abfahrten erhält er dann – wieder per SMS – den definitiven Entscheid: Die Rettungskette wird eingesetzt und fliegt in die Türkei. Also fährt er nach Hause in den Aargau, packt seine Heimfassung und geht am Nachmittag nach Kloten, wo die Mobilisierung stattfindet. Dort erfolgen medizinische Checks. Jedem Retter wird eine Funktion zugeteilt und weiteres Material wie Daunenjacken wird ausgeteilt. Er steigt in den Flieger der Swiss und weiss noch nicht, was die nächsten Tage auf ihn zukommen wird. Das Flugzeug hebt um 9 Uhr abends samt Rettungsteam und mehreren Tonnen technischem Material ab.
«Man sieht vielleicht Bilder, die man nie mehr loswird»
Nicht alle Mitglieder der Rettungskette melden die Bereitschaft zum Einsatz. «Die Rettungskette ist ein Milizkorps, kein Militärkorps. Sie operiert unabhängig von der Armee. Das heisst, man wird auch nicht zum Einsatz gezwungen», erklärt Philippe. Jeder entscheidet selbst, ob er sich zum Einsatz bereit erklärt oder nicht. «Man sieht vielleicht Bilder, die man nie mehr loswird», sagt Philippe, weswegen der Einsatz gut überlegt sein muss. Einige waren aber auch aus anderen Gründen verhindert. Beispielsweise wegen des Berufs, der Hochzeit des Bruders oder aus gesundheitlichen Gründen. Mehrheitlich sind die Mitglieder aber bereit, mitzugehen. Denn dafür wurden sie ausgebildet. Für den Einsatz im Ernstfall haben sie sich ursprünglich beworben.
«Der Rettungssoldat war für mich schon immer eine sehr sinnvolle Funktion in der Armee»
Für Philippe war klar, dass er geht. Und dies trotz zwei bevorstehender Prüfungen, die er wegen des Einsatzes verpassen würde. Er wird sie im Juni nachholen müssen. Doch dies scheint ihn nicht gross zu ärgern. Seine Aufgabe, in der Türkei den Einheimischen Soforthilfe zu leisten, priorisiert er. Es ist sein erster Einsatz mit der Rettungskette, obwohl er schon seit mehreren Jahren Teil des Teams ist. Im Sommer 2018, nach Abschluss der Matura, absolvierte er die Rekrutenschule als Rettungssoldat. Im Katastrophenbataillon in Bremgarten machte er den Durchdiener. Einmal durfte sein Zug an einer Übung der Rettungskette teilnehmen. Philippe berichtet: «Der Rettungssoldat war für mich schon immer eine sehr sinnvolle Funktion in der Armee. Bei dieser Übung habe ich dann gesehen, was man als Rettungssoldat bewirken kann, dass die Arbeit sinnvoll ist und mir zudem Spass macht.» Am Ende des Durchdieners hat er sich bei seinen Berufsoffizieren gemeldet und gefragt, ob er bei der Rettungskette als Retter mithelfen könnte. So wurde seine Bewerbung über den Militärweg ausgelöst.
«Wir als internationale Katastrophenhilfe tragen einen Batch der Uno»
In der Türkei gelandet erreicht die Rettungskette nach drei weiteren Stunden Busfahrt die Operationsbasis: Ein Zeltdorf, in dem mehrere Einsatzteams aus unterschiedlichen Ländern nachten. Nun muss alles funktionieren. Philippe erklärt mir, was der Schlüssel zur Organisation und Koordination des bevorstehenden Einsatzes ist: «Bereits vor dem Einsatz wird ein riesengrosses Rahmenwerk platziert. Wir als internationale Katastrophenhilfe tragen einen Batch der Uno, der uns die Einsatzerlaubnis im Ausland gibt.» In Genf fand im November 2021 die letzte Reklassifizierung der Rettungskette nach UNO-Standard statt. Dort werden Organisation und Arbeitsabläufe der evaluiert. Können die Retter Decken abstützen? Wissen sie, wie man Stahlbeton durchschneidet? Können sie im Notfall eine Amputation durchführen? Neben dieser Reklassifizierung hat die Rettungskette meist zwei mehrtägige Übungen pro Jahr. In Simulationsübungen begeben sie sich in Trümmerdörfer der Rettungstruppen und ziehen zur Übung ihre Kameraden aus den Trümmern. Im Einsatz in der Türkei verändere sich aber der Eindruck nochmals stark: «In der Türkei wusste ich, dass nicht meine Kollegen, sondern Zivilisten in den Trümmern auf uns warten. Und die Uhr tickt.»
Vor Ort in der Provinz Hatay
Hatay liegt im Süden der Türkei, eingepfercht zwischen dem Mittelmeer und Syrien. Vor Ort wird die Rettungskette in zwei Retterzüge aufgeteilt. So kann man gleichzeitig auf zwei Schadensplätzen arbeiten. Ein Zug wird wiederum in zwei Teams separiert. Eines arbeitet von Mittag bis Mitternacht, das andere von Mitternacht bis Mittag. Am ersten Tag hilft Philippe, die Operationsbasis aufzustellen. Das Handynetz funktioniert nicht. Mit kleinen Datenpaketen kann er dann schliesslich Familie und Freunde Zuhause in der Schweiz erreichen und ihnen versichern, dass es ihm gut geht. Doch für ihn war dies keine Priorität: «Während diesen acht Tagen dachte ich an nichts anderes und konzentrierte mich auf meinen Einsatz. Es gab nur mich, meine Geräte und den Schadenplatz.»
Der Einsatz in den Trümmern
Der Prozess der Rettung funktioniere immer gleich, führt Philippe aus: In der Erkundungsphase wird nach Schadensplätzen gesucht. Vor Ort fragt das Team die Einheimischen, wo sie denken, dass es noch Überlebende haben könnte. Danach wird der Ort mit Rettungshunden abgesucht. Sobald die Retter ein Signal haben, beginnt der Einsatz. «72 Stunden nach dem Erdbeben sinkt die Chance, noch jemanden lebend in den Trümmern zu finden, exponentiell ab, weil die Leute verdursten», stellt Philippe klar. Der Wassermangel sei der grösste Feind. Er erzählt mir von einer Mutter mit Kind, die Glück im Unglück hatten: Zum Zeitpunkt des Erdbebens befanden sie sich in der Küche. In den Trümmern hatten sie daher Zugang zu Nahrung und Wasser und konnten so mehrere Tage überleben. «Emotional am meisten zu schaffen machte mir, wenn Leute aus der Ferne auf uns zugekommen sind und um Hilfe gebeten haben. Als Retter musste man ihnen dann erklären, dass wir zurzeit an diesem Schadenplatz dran sind und nicht zu ihrem verschütteten Familienmitglied kommen konnten. Die hoffnungslosen, traurigen Blicke bleiben mir.» Eine Rettung hat Philippe besonders stark geprägt: eine junge Frau, 22 Jahre alt. Er schaute zu, als sie aus den Trümmern befreit wurde. «Als ich sah, wie sie gemerkt hat, sie ist jetzt in Freiheit. Diese Gefühle waren wunderschön. Das hat mich stark bewegt.» Die Rettungskette Schweiz konnte insgesamt elf Personen retten. Andere ausländische Rettungsteams fanden während drei Tagen nur Tote. «Dies war für die jeweiligen Retter eine grosse Belastung», erinnert sich Philippe.
Zurück an der Universität Freiburg
Nach acht Tagen Einsatz unter schwersten Bedingungen macht sich das Schweizer Rettungsteam auf den Heimweg. Philippe ist nun zurück an der Universität und besucht wieder wie üblich Vorlesungen im Gebäude Pérolles. «Ich bin zufrieden mit dem Einsatz und froh, dass ich mitgegangen bin», sagt er. «Für mich hat der Einsatz in gewisser Hinsicht die letzten fünf Jahre validiert, in denen ich geübt und für den Ernstfall ausgebildet wurde.»
Nach fast einwöchigem Dauereinsatz beendete die Rettungskette Schweiz ihre Suche nach Überlebenden des verheerenden Erdbebens in der Türkei. Das Team und die Suchhunde kehrten am Montag, 13. Februar 2023, wieder in die Schweiz zurück. Überschneidend lief die zweite Phase der Schweizer Nothilfe bereits zwei Tage zuvor an: Am Samstag, 11. Februar 2023, erreichte das Soforteinsatzteam des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) Hatay. Unter anderem sind medizinisches Fachpersonal und Ingenieure weiterhin vor Ort, um die türkische und syrische Bevölkerung zu unterstützen.