Von Marcel Rupprecht

An einem dieser Tage, an denen der Frühling mit dem Flieder neu erblüht, erblickte ich auf einer Bank am Platz Saint-Michel eine Schöne. Ich wollte sie grüssen, lief zu ihr hinüber, als mir ein Kerl zuvorkam. Er grüsste sie mit solch Einfalt, dass ich mir sicher war, sie gäbe ihm einen Korb. Ich sah ihm heimlich zu, wie er sich blamierte, weil sie ihn nur flüchtig grüsste, lange in ihrer Tasche wühlte und ihn kaum zur Kenntnis nahm. Endlich erhob sie sich. Sie lächelte und zeigte zur Brücke Saint-Michel. Sie schlenderten Seite an Seite über die Brücke und zur Allee des Boulevards du Palais. An den sonnengewärmten Tischen vor einer Brasserie nahmen sie Platz. Ich tat es ihnen gleich und rief den Kellner herbei. Sie bestellten Wein. Manchmal sagte der Dumme was mit wenig Witz und es störte mich, wie poesielos er in ihrer Gegenwart sprach. Aber sie lachte trotzdem. Was fand sie bloss an ihm? Sie suchte seinen Blick. Als der Dumme den Mut doch noch fand, zu ihr zu schauen, blickte sie weg – wieder zurück in seine Augen (und er wieder weg). Der Abend kam, es wurde frisch. Er sagte: „Gehen wir.“ Sie nickte. Ich liess Geld auf dem Tisch und folgte ihnen. An einer Haltestelle am Quai Gesvres blieben sie stehen. Unten auf der Promenade spazierten Pärchen dem Fluss entlang. Gegenüber spielte ein Strassengitarrist ein Lied von Cabrel. Die Schöne sprach: „Eines Tages will ich nach Venedig und dieses Lied dort hören.“ Der Dumme erwiderte: „Und ich will es eines Tages auf der Gitarre spielen.“ Ein Bus hielt an. „Ist das deiner?“, fragte sie. „Nein, meiner kommt in einer halben Stunde. Welchen nimmst du?“

„Nummer sieben“. Ihre Augen fielen auf den Bus: sieben. „Komm ich lad dich ein auf ein letztes Bier.“ Sie rannten über die Strasse, kauften im Imbiss gegenüber Bier, überliessen das viele Wechselgeld dem Musikanten, denn das einzige von Wert war die Zeit, die ihnen blieb. Sie kamen zur Haltestelle zurück, rauchten, tranken, lachten und schauten sich mal in die Augen und mal auf die Lippen, bis schliesslich der Bus Nummer sieben wieder kam. Da gaben sie sich zum Abschied eine tief gefühlte Umarmung und die Schöne war fort. Wie traurig war ich, dass alles plötzlich zu Ende gekommen war. Ich fand mich im Bus wieder und sah mein Spiegelbild im Fenster. Ich sass vis-à-vis dessen, den ich dumm geglaubt hatte. Er trank Bier und schaute zu den schimmernden Lichtern der Stadt. Dann blickte er zu mir. „Du schreibst doch Liebesgedichte? Hab‘ über dich gelesen in der Lire.“ „Ja, der bin ich. – Deine Begleiterin; eine hübsche Frau – schöne blaue Augen.“ Wie dumm ich jetzt sprach! Er erwiderte: „Nur wenn sie lacht. Als sie das Lied hörte, weisst du, die Passage ‚puisqu’on ne vivra jamais tous les deux’, da waren ihre Augen ganz kurz grau. Dann sind sie am schönsten, wenn sie blaugrau glänzen, weil sie tieftraurig ist. Das sind die Augen, die mir gefallen.“ Er trank das letzte Bier. „Aber das darf ich ihr nicht antun. Es bleibt mir nur die Umarmung, und morgen werde ich mir einreden, es sei alles anders gewesen, als es schien.“ „Warum redest du nicht mir ihr?“ „Wie sage ich ihr denn, dass sie meinetwegen herzhaft lachen und dass sie bittere Tränen weinen wird nur für mich? Wie sagt man, was man fühlt, ohne dass es künstlich oder albern klingt? Es steckt so viel Wahrheit im Gefühl, da reicht kein Wort heran. Du bist doch Dichter, du weisst, was ich meine.“ Aber ich war jetzt müde geworden, vermochte auch nicht darüber nachzudenken, dachte zudem, er sei zu betrunken.

Inzwischen sind Jahre vergangen und seither brachte ich kein Gedicht mehr zustande. Die Zeitschrift sandte sie mir alle zurück; sie seien unbrauchbar, witzlos. Immer versuchte ich, jenes Gefühl hervorzurufen, das die beiden in ihre Umarmung gelegt hatten. Aber je poetischer ich schrieb, desto alberner klang es am Schluss. Und je nüchterner ich es beschrieb, desto banaler wurde meine Kunst. Meine Poesie war mir verleidet. Als ich jüngst einen Chansonnier am Quai singen hörte, wünschte ich von ganzem Herzen, dass die beiden sich in den Armen hielten. Irgendwo in Venedig. Da spürte ich, dass ich doch ein letztes Mal darüber schreiben musste, wie zwei sich finden, die nie zusammen sein werden. Sollten die Schöne und der Dumme ihre Geschichte hier wiederfinden, dann wird meine Dichtung nicht umsonst gewesen sein: Redet euch nicht ein, es sei alles anders gewesen, als es schien, denn es war genau so, wie es schien: Damals an einem Frühlingstag am Quai Gesvres, als ein Sänger euch aus dem Herzen sprach, da habt ihr euch verliebt.