Die Vorfreude auf dich beginnt irgendwann im Winter: Tickets bestellen, erste Bands anhören, Freunden Bescheid sagen. Müssig, alle wissen bereits Bescheid, alle kommen. Alle kommen, weil es für jeden Geschmack etwas gibt. Du kannst dich nicht für einen Musikstil entscheiden. Deine Kritiker lachen dich aus, weil du neben schwarz gekleideten Rockfans auch kreischende Singer/Songwriter-Teenies, Horden von Mallorcatouristen mit Hawaiiketten und Raver mit Permanentsonnenbrille auf und Koks in der Nase anziehst. Wie entspannt es aber ist, einmal nicht szenekonform gekleidet, gelaunt und gebildet sein zu müssen, das werden diese Ignoranten nie verstehen. Du brauchst keine Schubladen, und das ist gut so.

Spätestens ab Dienstag riecht in der Region St. Gallen alles nach Festival. Ausverkaufte Gummistiefel, Zelte und Pavillons, leergeräumte Sangria-Regale und erste Verrückte, die sich mit Sack und Pack beladen in Richtung Sittertobel aufmachen. Spätestens ab Donnerstagmorgen herrscht vor dem Eingang ein beispielloses Gedränge und auch wer früh aufsteht, hat keine Garantie, nicht in einem Sumpfloch oder an einem Steilhang übernachten zu müssen. Sie lachen dich aus, weil du es schaffst, das auf dem Gelände überall Leute in akrobatischer Verkrümmung in einer feuchten Lache übernachten. Wieviel Spass es aber macht, in einer Art Schicksalsgemeinschaft stundelang im Regen auszuharren und die von einem Windstoss verknoteten Pavillons irgendwie wiederherzurichten, das werden diese Schönwetter-Menschen nie verstehen. Man braucht Durchhaltewillen an diesem Festival, und das ist gut so.

Jedes Jahr wieder belächeln die nationalen Fernseh- und Radiostationen dein Publikum für seine Anspruchslosigkeit. Jedes Jahr ein ähnliches Lineup, jedes Jahr wird im Hintergrund der Hauptbühne am Nachmittag Frisbee, Fussball oder gar Rugby gespielt. Jedes Jahr werden betrunkene Schreinerlehrlinge und Geräteturnerinnen im Discozelt vor die Kamera gezerrt, um ihr Desinteresse für die grossen Künstler auf der Hauptbühne zu demonstrieren. Weil du mehr als eine Abfolge von Konzerten hochgejubelter Stars bist, sondern deine Besucher auf alle erdenklichen Arten Spass haben wollen, lachen sie dich aus. Wer sind sie schon, dass sie uns Besuchern vorschreiben wollen, wie viele Konzerte man am Tag zu besuchen und wie begeistert man von welchem grossartigen Auftritt zu sein hat? Bei dir darf jeder spielen, diskutieren und schlafen wie und wann er will, und das ist gut so.

Die besten Auftritte bei dir überraschen einem positiv. Dieses Jahr hast du uns Die Toten Hosen präsentiert. Sie straften diejenigen Lügen straften, die sie in die weichgespülte Schlagerecke stellen. Denn obwohl mittlerweile oft im Radio zu hören, wirkte die Düsseldorfer Band erfrischend anders und bot während über zwei Stunden ein Feuerwerk von Emotionen. Frontmann Campino wirkte mit fortschreitender Konzertdauer zunehmend angeheitert; er vergass Texte und stimmte spontan Lieder an, zertrümmerte beim Herumspringen im Publikum einer Besucherin die Nase und verteilte fröhlich Schnaps und Komplimente an die Konzertbesucher. Und weil die Altrocker noch nicht genug hatten, zogen sie anschliessend noch bestens gelaunt über den Zeltplatz.

Du hast uns Knöppel vorgesetzt, welche am frühen Nachmittag mit selbsternanntem „Wichserrock“ die Zuhörer vor der Sternenbühne mit viel Krach und pubertären Texten über Onanie, Bier und das Leben in der Provinz prächtig unterhielten. Deine Besucher erlebten Auftritte von Wanda (Amore!), Bilderbuch (jedes Lied ein Hit) und Passenger (übersympathisch), aber auch von Alt-J, deren Auftritt so unpersönlich und blutleer war, dass auch einfach ein Musikvideo abgespielt hätte werden können. Auch Die Beginner konnten nicht verbergen, dass ihr Live-Zenit wohl bereits überschritten ist. Dein Programm bot erfreuliche Leidenschaft, aber auch enttäuschende 0815-Auftritte, und das ist gut so.

Nun habe ich dich auf der ganzen Linie verteidigt, statt eine ehrliche, objektive Rezension zu verfassen. Habe herumgeschleimt, romantisiert, verklärt. Habe bewusst verschwiegen, dass jeder Quadratmeter irgendeinem nichtssagenden Sponsor verkauft wurde, dass der Preis trotz immer gleichbleibender Leistung immer weiter steigt und sich zudem auch jede Menge Idioten mit dümmeren Aktionen zu übertreffen versuchen: sexistische Sprüche, Diebstähle, Umweltverschmutzung. Doch du bist mir diesen schönfärberischen Artikel wert, liebes OASG. Schliesslich kenne ich dich seit Jahren, bin mit dir per Du und kann mir keinen tolleren Sommerstart vorstellen, als dich zu besuchen. Bei Freunden wie Dir drückt man auch einmal ein Auge zu, und das ist gut so.

Herzlich

Lorenz Tobler