Kein Kalifat, kein Staat, kein Patriarchat. In Rojava scheint die Utopie real. Die autonome Selbstverwaltung in Nordsyrien macht Hoffnung. Doch das Projekt ist bedroht.

«Die Rojava-Revolution gehört allen Menschen. Nicht nur den Kurd*innen», sagt Azad Dêrikî*. Er ist Aktivist und politischer Flüchtling. In Syrien sass er deswegen mehrfach im Gefängnis. Dêrikî glaubt weiterhin an die Revolution und engagiert sich auch im Exil. «Ich hoffe, dass die Rojava-Revolution ein Vorbild für die Geschwisterlichkeit der Völker wird», sagt Dêrikî. «Die Welt ist gross genug, wir können alle darin leben.»

Die autonome Selbstverwaltung in Nordsyrien ist kein Staat. Nachbarschaften organisieren sich in kleinen Kommunen, wählen Vertreter*innen in übergeordnete Räte, gründen Genossenschaften und regeln so das öffentliche Leben. Jeder Posten wird von einer Frau und einem Mann besetzt. Jedes Gremium berücksichtigt die Interessen der verschiedenen Volksgruppen. Armenier*innen, Assyrer*innen, Araber*innen und Kurd*innen. Sie koexistieren friedlich. Mitten im Brennpunkt der Weltpolitik.

Demonstrant*innen schwenken in Rojava Fahnen mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan.

Gegen das Kalifat

Als vor über zehn Jahren der Arabische Frühling Schlagzeilen machte, war die Hoffnung auf einen baldigen Demokratisierungsschub im Maghreb und im Mittleren Osten greifbar. «Die Menschen gingen auch in Syrien gegen das Regime auf die Strasse», sagt Dêrikî. «Sie hatten aber keinen Plan für das Danach. Die Kurd*innen hatten eine Vision.»

Die Vision nennt sich Demokratischer Konförderalismus und wird in Rojava realisiert. Ihren Anfang nahm die Revolution in Kobanî. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 blockierten Demonstrant*innen Stützpunkte der syrischen Armee und Volksverteidigungskräfte der YPG die wichtigen Verkehrsverbindungen der Stadt. Später mussten sie die autonome Selbstverwaltung gegen die Islamist*innen des Kalifats verteidigen.

Der YPG und den Frauenverteidigungseinheiten, der YPJ, gelangen in den folgenden Jahren bemerkenswerte Siege gegen den sogenannten «Islamischen Staat». In der YPG und der YPJ kämpfen nicht nur Kurd*innen, wie Dêrikî sagt. «Internationalisten aus aller Welt schlossen sich dem Kampf an.» Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten wurden in ihrem Kampf gegen den «IS» zunächst auch von den USA unterstützt. Stadt um Stadt wurde vom «Kalifat» zurückerobert. Besonders verfolgte Volksgruppen, wie beispielsweise Armenier*innen und Assyrer*innen, aber auch Araber*innen fanden in Rojava Zuflucht. Der Westen feierte die kurdischen Kämpfer*innen als Bollwerk gegen die Grausamkeit des islamistischen Terrors. Jetzt kämpfen sie an neuen Fronten.

Türkische Angriffe

Das Gebiet der autonomen Selbstverwaltung wuchs und erstreckte sich schliesslich über weite Teile Nordsyriens. Und obwohl es sich nicht um ein kurdisches Gemeinwesen handelt, geriet Rojava ins Visier von Präsident Erdogan. Unter dem Namen «Operation Olivenzweig» begann im Januar 2018 die türkische Offensive im Kanton Afrin. Die Türkei marschierte damit zum zweiten Mal ohne UNO-Mandat in Syrien ein. Ziel des Angriffs war es laut dem türkischen Präsidenten die «südliche Grenze vom Terror zu säubern.»

«Olivenzweig» blieb nicht der letzte Angriff auf Rojava. Unter dem Namen «Operation Friedensquelle» versucht die türkische Armee seit Oktober 2019 einen «Sicherheitskorridor» auf syrischem Staatsgebiet zu errichten. «Erdogan nutzt eine Vernichtungsrhetorik gegen die Kurd*innen. Er will sie aus den besetzten Gebieten vertreiben.» Laut dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge sind die Menschen bereits in den ersten Tagen des Angriffs zu Zehntausenden geflohen. «Sie leben in Flüchtlingslagern unter sehr schweren Bedingungen», sagt Dêrikî.

«Wir wollen keinen Krieg», sagt er. Doch kämpfen müssen die Kurd*innen trotzdem. «Meine Freunde in Syrien werden weiterhin Widerstand leisten, auch wenn Opfer gebracht werden müssen.» Unterstützung erhalten die Kämpfer*innen der YPG und der YPJ auch von Teilen der arabischen Bevölkerung, wie Dêrikî sagt. Ihnen gegenüber steht nicht nur die türkische Armee, sondern auch islamistische Milizen. Die türkische Aggression hat inzwischen an Schwung verloren. Vermutlich auch aufgrund des internationalen Drucks. Die Situation bleibt jedoch angespannt. «Meine Freunde rechnen immer damit, dass Erdogan wieder angreift», sagt Dêrikî.

Bilder gefallener YPG und YPJ Kämpfer*innen werden durch die Strassen getragen.

Machtblöcke treffen aufeinander

Das ursprüngliche Bestreben, entlang der gesamten syrisch-türkischen Grenze einen vierzig kilometerlangen «Korridor» zu erobern, konnte die türkische Armee bisher nicht erreichen. Doch wichtige Teile der autonomen Selbstverwaltung sind besetzt. In den entsprechenden Gebieten sollen Geflüchtete des syrischen Bürgerkrieges angesiedelt werden, welche in der Türkei Asyl erhielten. Die Wochenzeitung «Die Zeit» warnte in diesem Zusammenhang vor Vertreibung und «ethnischer Flurbereinigung», wie zuvor bei den Angriffen auf Afrin.

Die Türkei hat Fakten geschaffen. Möglich wurde das auch durch Donald Trump. «Er hat Erdogan grünes Licht für den Angriff gegeben», sagt Dêrikî. Dafür wurde er sowohl von der Demokratischen, als auch der Republikanischen Partei kritisiert. Die USA waren im Kampf gegen den «IS» mit der YPG verbündet, zogen ihre Soldaten jedoch auf Befehl von Präsident Trump aus Syrien ab. Damit machte er den Weg frei für den Angriff des NATO-Partners.

Die EU-Aussenminister*innen verurteilten die Invasion und riefen die Mitgliedsstaaten dazu auf, Waffenexporte an die Türkei zu unterbinden. Tiefgreifende Sanktionen blieben aus. Der EU dürfte klargewesen sein, dass Erdogan mit Millionen geflüchteter Syrer*innen in seinem Land ein gewichtiges Faustpfand in den Händen hielt. Auf Wunsch der EU schloss die Türkei ihre Grenzen nach Europa für Geflüchtete aus Syrien. Die Migrationspolitik der EU möchte, dass das so bleibt. Erdogan nutzte dieses «Druckmittel» nicht zum ersten Mal.

Dêrikî hofft, dass sich die Situation unter Präsident Joe Biden minimal verbessert. «Aber uns ist natürlich klar, dass die USA ihren NATO-Partner nicht fallen lassen werden.» Bei der Verteidigung der syrischen Staatsgrenzen ist die autonome Selbstverwaltung letztlich auch auf Hilfe von unliebsamer Seite angewiesen. Das Assad-Regime macht Rojava offiziell keine Zugeständnisse. «Assad möchte den Status quo von vor 2011 wiederherstellen», sagt Dêrikî. Trotzdem musste die Selbstverwaltung auf die Präsenz der syrischen Armee zurückgreifen. Und das, nachdem sie Rojava zu Beginn der Revolution verlassen hatte. «Die Kurd*innen wollten, dass das Regime zum Schutz der syrischen Staatsgrenzen beiträgt», sagt Dêrikî. «Aber man darf nicht vergessen: In erster Linie waren es die Volksverteidigungskräfte der YPG und YPJ, welche Syrien vor der türkischen Invasion schützt.»

Die Zukunft Rojavas bleibt ungewiss und hängt auch vom grösseren Mächtegeflecht der USA, Russlands, der Türkei und der EU ab. Der Wille der Menschen in Rojava aber sei ungebrochen, sagt Dêrikî. «Sie werden Widerstand leisten!»

*Name von der Redaktion geändert

Text: Matthias Venetz
Bilder: ZVG