Über wieviel Macht verfügen Politiker? Ist ihr Machtstreben unersättlich? Und wie schaffen sie es, gehört zu werden? Spectrum hat mit den Parteipräsidenten Christian Levrat (SP) und Gerhard Pfister (CVP) über Macht in der Politik gesprochen.
„In die Politik einsteigen und sagen: Ich werde Parteipräsident – das geht nicht.“ – Christian Levrat
Als Politikerin oder Politiker in der Schweiz nach ungeteilter Macht zu streben, sei unrealistisch. „Sie ist in unsere föderalistische Struktur und Gewaltenteilung zersplittert“, erklärt Christian Levrat, als wir ihn gemütlich zum Bier im Le Mondial treffen. Deshalb möchte er lieber von Einfluss als von Macht sprechen. Sein Ziel sei es, Einfluss zu haben. „Ich möchte angesehen und gehört werden“, meint der Freiburger. Um dies in der Politik zu erreichen, muss man die richtigen Strategien anwenden. Diese können je nach Umfeld stark variieren. Teilweise fühle er sich fast schizophren, denn die Welt der Politik sei eine Kultur der Komplexität, der Nuancen und des Konsenses.
Medienarbeit als Schlüsselelement
Im Gegensatz dazu stehen die Spielregeln der Medien. Zuspitzen und Verkürzen lautet hier die Devise. Um von der Medienwelt gehört zu werden, muss man ab und zu provozieren. Das tat Levrat beispielsweise, als er Bundesrat Cassis als Praktikant betitelte. „Diese Aktion diente mir, um meine europapolitische Botschaft zu transportieren“, erklärt er. Die Betitelung als Praktikant war keinesfalls ein Ausrutscher. „Ich provoziere bewusst, um eine Diskussion auszulösen und gehört zu werden.“ In der Politik zählen jedoch nicht nur die Schlagzeilen. Viel wichtiger ist eine gute Beherrschung der Dossiers. Mediale Aufmerksamkeit sei nicht per se mit Einfluss verbunden. „Es gibt einige Politiker mit viel Einfluss, die sich sehr diskret verhalten. Sie sind gut vernetzt und man braucht sie fast immer, wenn man eine tragfähige Lösung will.“
Einfluss ist kein Selbstzweck
Er als Parteipräsident verfüge dank vielen Kontakten über viel Einfluss. „Ich empfinde es als Privileg, im Kreis der Macht zu stehen. Mein Beziehungsnetz überspannt alle Machtebenen, dadurch ergibt sich eine Vielfalt an Einflussmöglichkeiten.“ Seinen Einfluss stärken will Levrat nicht aus purem Selbstweck, sondern vielmehr, um seine Vorstellungen umsetzen zu können.
Auf die Frage, ob er schon immer habe Parteipräsident werden wollen, meint Levrat: „Man sollte seinen politischen Werdegang nie als Einbahnstrasse sehen. In die Politik einsteigen und sagen: Ich werde Parteipräsident – das geht nicht.“ Er selbst übernahm das Amt des Parteipräsidenten 2008. Zu dieser Zeit war die Zukunft der SP offen. „Ich wollte der Partei eine Richtung geben“, begründet Levrat seinen Entscheid, als Präsident der SP zu kandidieren. Um dieses Amt auszuüben, sollte man auf alle Fälle kritikresistent und streitfreudig sein, meint er.
Mit Macht kommt Distanz
Man spürt, dass Christian Levrat seine Arbeit gerne macht und mit Freude politisiert. Das Einzige, was er als nationaler Politiker vermisse, sei das hautnahe Mitverfolgen des politischen Prozesses – vom Beschluss bis zur Umsetzung. Denn die meisten Entscheide, die das Leben der Bevölkerung tangieren, werden auf lokaler Ebene gefällt und davon ist er als Ständerat und Parteipräsident weit entfernt. Er entscheide über sehr abstrakte Gesetze mit wenig konkreten Auswirkungen. „Das bedeutet nicht, dass sie nichts nützen. Doch es braucht viel Zeit bis zur Umsetzung und diese ist für die Bevölkerung teilweise gar nicht spürbar.“ Langsamkeit ist ein charakteristisches Wort unseres politischen Systems. „Politik in der Schweiz ist eine Geduldsschule“, so Levrat. Ab und zu nerve die Trägheit des Systems, doch schlussendlich bringe es bessere Ergebnisse. Denn bis es zu einer Entscheidung kommt, haben alle wieder etwas kühlere Köpfe. „Diese Distanz hilft, längerfristig etwas Nachhaltiges zu bestimmen“, ist sich Levrat sicher. „Zudem ist das System schneller, als man denkt. Wenn es wirklich brennt, dann kann es schnell gehen. Zum Beispiel als wir über Nacht die UBS retten mussten.“
Entscheidungsfindungen, Kompromisse, Einfluss und vielleicht doch eine Prise Macht: Könnte sich Levrat überhaupt noch eine andere Arbeit jenseits der Politik vorstellen? Er bleibt bescheiden: „Ich glaube nicht, dass ich Macht brauche. Ich kann mir auch gut vorstellen, eine Arbeit auszuführen, die sich nicht in einem Kraftverhältnis ausdrückt. Aber die letzten zwanzig Jahre sprechen gegen diese These, das ist mir bewusst.“
„Wer sich in der Schweiz als Politiker machtlos fühlt, hat seinen Job verfehlt.“ – Gerhard Pfister
Was Macht in der Politik bedeutet, wollen wir auch von Gerhard Pfister gleich als Erstes wissen. „Politische Macht heisst, Einfluss zu haben und Entscheidungen zu treffen“, erklärt Pfister. Macht in der Politik brauche aber immer eine Legitimation, sei begründungspflichtig.
Die Schweiz als föderalistischer Staat steht dem Begriff „Macht“ zurückhaltend und misstrauisch gegenüber. Dennoch sieht Pfister auch positive Seiten der Macht; so ist er überzeugt, dass die Macht der Freiheit sich letztlich überall durchsetzen wird.
Minimale Macht, maximale Freiheit
Gerhard Pfisters politische Karriere vom Zuger Kantonsrat zum Nationalrat und 2016 schliesslich zum Parteipräsidenten der CVP Schweiz ist beispielhaft. Verändert hat ihn die immer grösser werdende Macht, die der politische Aufstieg mit sich brachte, nicht, ist er überzeugt. Als Privatperson verändere man sich aber aufgrund der Intensität und der Andersartigkeit der politischen Ämter.
„Die Schweiz ist das Land, welches die Macht von Menschen über andere in der Politik auf ein notwendiges Minimum reduziert hat. Im Gegensatz dazu wird versucht, die Freiheit zu maximieren.“ Durch die vielen Machtbrechungselemente wie die Gewaltenteilung oder das Mitbestimmungsrecht des Volkes in Form der Referenden sei man als Schweizer Politiker nicht mächtig, beharrt Pfister, der zu den gewichtigsten politischen Stimmen des Landes zählt. „Das Präsidium bringt zwar durchaus mehr Macht, aber auch mehr Verpflichtungen mit sich“, erklärt er. So müsse er seine Partei in wichtigen Fragen frühzeitig positionieren und dafür sorgen, dass sie gegen aussen trotz unterschiedlicher Strömungen als Einheit auftritt. „Meine Führungsverantwortung liegt dabei in einer Mischung aus Antizipation, Kommunikation und letztlich dem Treffen von Entscheiden.“ Er sehe seine Rolle als Parteipräsident aber vielmehr als diejenige eines Mediators als eines Chefs eines Unternehmens.
Macht als Instrument
Im Parlament lassen Politikerinnen und Politiker ihre Macht einfliessen, indem sie versuchen, Mehrheiten zu bilden in dem Sinne, wie sie es für richtig halten. „Zur Mehrheitsbildung gehört, wie auch im Alltag oder in anderen Berufen, eine taktische Komponente“, führt Pfister weiter aus, „denn Politik ist ein Abbild des Lebens und nicht etwas komplett Anderes.“
Die Frage, ob er sich denn auch manchmal machtlos fühle in der Politik, verneint er kurzerhand und fügt gleich an: „Wer sich in der Schweiz als Politiker machtlos fühlt, hat seinen Job verfehlt.“ Eine parlamentarische Demokratie sei nun einmal langsam, aber genau diese Langsamkeit zeige einen sorgsamen Umgang mit Macht.
„Streben Sie nach Macht, Herr Pfister?“ – irgendwann muss die Gretchenfrage kommen. Pfister zögert, räuspert sich und antwortet dann: „Es wäre gelogen, wenn ich Nein sagen würde. Politik hat für mich etwas sehr Faszinierendes und das hat auch mit Einfluss und Macht zu tun. Jeder Politiker will sein Bild der Schweiz umsetzen. Das Instrument dazu ist die politische Macht.“
Geliehene Macht auf Zeit
„Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen.“ Oder: „Politiker interessiert doch nur ihre Wiederwahl.“ So tönt es hie und da aus dem Volksmund. Mit der Frage konfrontiert, ob es schon vorgekommen sei, dass er sein persönliches Interesse an der Wiederwahl den Interessen seiner Wählerschaft übergeordnet habe, reagiert Pfister ohne Zögern: „Nein, das können Sie mir jetzt glauben oder auch nicht.“ Sein Ziel sei es nicht, dass die Leute mit ihm einverstanden sind. „Aber es ist mein Ziel, dass die Leute wissen, was ich meine. Die Bevölkerung hat ein Anrecht darauf, zu wissen, wofür ich einstehe und dann zu entscheiden, ob sie dies für falsch oder richtig hält.“
Wo liegt denn in der Schweiz die Gefahr eines Machtmissbrauchs? „Eine ganz schwierige Frage“, antwortet Pfister. Man könne ihn als naiv bezeichnen, aber er sei der Meinung, dass Machtmissbrauch in der Schweiz relativ selten vorkomme, weil er nicht möglich ist.
Am Ende des Gesprächs resümiert Pfister: „Mein Nationalratsmandat ist geliehene Macht auf Zeit. Es ist ein Privileg und etwas wahnsinnig Schönes. Man muss sich aber immer wieder in Erinnerung rufen, dass das Volk diese Macht alle vier Jahre ohne Begründung beenden kann.“