Sich über Datingplattformen kennenzulernen, wird immer populärer. Was können Apps wie Tinder in uns auslösen? Vom «effizienten Dating» und seinen Auswirkungen.

Nach links. Den hier auch nach links. Diesen, mit dem ansprechenden Profilbild, dann doch lieber nach rechts. Bei der Dating-App Tinder ist man immer nur einen Wisch mit dem Daumen von der Liebe fürs Leben entfernt. Oder von einem netten Kennenlernen unter Freunden und Freundinnen. Oder von unverbindlichem Sex. Per «Swipe» trennt man, aus durch und durch subjektiven Gründen, die ansprechenderen Profile von den langweiligen. Wird man von jemandem ebenfalls nach rechts gewischt, entsteht ein «Match» und man kann sich nun gegenseitig Nachrichten schicken. «Matchen. Chatten. Daten.» – der Werbeslogan von Tinder ist also Programm. Seit die App im Jahr 2012 herausgebracht wurde, kann man sie im App-Store des Vertrauens herunterladen. Und sie hat eine Erfolgsgeschichte hingelegt: Für das zweite Quartal von 2019 wiesen Statistiken rund fünf Millionen zahlende Nutzerinnen und Nutzer aus. Vor drei Jahren waren es nur eine Million. Die Zahl der kostenfrei angemeldeten Nutzerinnen und Nutzer dürfte noch weitaus höher sein. Geht von Plattformen wie Tinder also ein realer Einfluss auf unser Dating-Verhalten aus? Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen wandte sich Spectrum an die Sexualtherapeutin Christiane Weinand, die durch ihre Arbeit regelmässig mit diesen und ähnlichen Themenfeldern in Kontakt kommt: «Die Zahlen sprechen für sich. Der Effekt von Plattformen wie Tinder auf die Gesellschaft, in der wir leben, ist gross», sagt die Sexualtherapeutin.

Dating als Adrenalinkick

Der Einfluss von Tinder werde sich auf absehbare Zeit halten, schätzt Weinand. «Einer niederländischen Studie zufolge nutzen Menschen die App als neue Möglichkeit, Dinge wie Liebe und Kontakt, aber auch einen gewissen Nervenkitzel zu finden.» Wie viele Likes bekommt mein Profil? Wie oft werde ich angeschrieben? In welcher «Liga» spiele ich? Oftmals haben Dating-Apps die Tendenz, in ein eher negatives Licht gerückt zu werden. Kritisiert werden ihre Oberflächlichkeit oder fehlende Romantik. Christiane Weinand hebt jedoch auch positive Aspekte an dieser Form des Kennenlernens hervor: Die Identität, die wir uns als Nutzerinnen und Nutzer im Netz zulegen, habe nicht nur die Funktion, uns selbst darzustellen, sondern uns ein Stück weit auch zu finden oder zu erfinden. Auf diese Art könne man mit weniger Hemmungen seinen Vorlieben nachgehen oder sie erst entdecken. «Vor allem aber bietet Tinder die Möglichkeit, unkompliziert mit Leuten in Kontakt zu treten. Das ist eine Chance!», sagt Weinand. Ein weiterer positiver Aspekt sei, dass durch den kostenlosen Zugang zur App alle mitswipen können, die möchten.

Von der App in die Realität

Natürlich schafft Tinder nicht alle Probleme aus der Welt, die mit dem Kennenlernen anderer einhergehen: «Die erste Kontaktaufnahme wird zwar vereinfacht, wenn es aber tatsächlich zu einem Treffen mit einer realen Person kommt, können dieselben Schwierigkeiten auftreten, wie sonst auch», so Weinand. Deshalb komme es durchaus vor, dass jemand sich auf Tinder zu einem Treffen verabrede, zu dem die Person dann nicht erscheine. «Es gibt Nutzerinnen und Nutzer, die online mogeln und sich nicht ganz authentisch darstellen – sie scheitern unter Umständen an der Realität. » Hier könne die durch Tinder ermöglichte Unverbindlichkeit auch zum Stolperstein werden. «Wir alle wünschen uns einen Partner oder eine Partnerin, mit dem oder der wir intim sein können. Tinder gibt uns zwar die Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen, aber natürlich keine Gewähr darauf.» Die App zeigt uns eben doch immer nur, wie unser mögliches Gegenüber aussieht. Nicht aber, wie es spricht, riecht oder gestrickt ist.

Oberflächlichkeit ist menschlich

Ständig beurteilen wir unsere Mitmenschen aufgrund ihres Äusseren und das keinesfalls nur auf Datingplattformen. «Wenn wir uns in unserem Alltag durch die Stadt bewegen, selektieren wir Menschen auf der Strasse dauernd und stecken sie unterbewusst in gewisse Kategorien », meint Christiane Weinand. Die App bediene somit vorrangig menschliche Bedürfnisse, die schon davor bestanden hätten. Scheinbar brauchen wir gar keine komplizierten Algorithmen, die unsere Persönlichkeiten analysieren, damit wir online auf der Suche nach einem Date fündig werden. Bilder reichen uns für einen ersten, aber wichtigen Eindruck. Können diese in eine App gegossenen Strukturen nicht auch gewisse Gefahren mit sich bringen? Fangen wir dadurch an, Menschen zu «konsumieren»? «Es kann durchaus zu einer Art Hobby werden, sich mithilfe von Tinder selbst zu vermarkten», sagt Weinand dazu. Unter viel Ablehnung durch andere Nutzerinnen und Nutzer könne das Selbstwertgefühl einer Person leiden. Und vor allem: «Wenn man die App nur als Tool für Selbstbestätigung braucht, ist das Risiko hoch, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten.» Dieser Aspekt beschränke sich nicht auf ein Geschlecht, sondern spiele sowohl bei Männern als auch Frauen eine Rolle. Eine solche krankhafte Nutzung sei jedoch kaum als Regelfall anzusehen. Christiane Weinand spricht hierbei von einer Art Regulativ in der Gesellschaft. «Als mit dem Internet der Zugriff auf pornografische Inhalte stark vereinfacht wurde, gab es auch eine breite, öffentliche Diskussion darüber, wie die Effekte aussehen würden.» Die tatsächlichen Folgen hätten sich als viel weniger dramatisch erwiesen, als erst angenommen. «Wir sind nicht alle pornosüchtig geworden, nur weil der Zugang zu solchen Inhalten heutzutage einfacher ist.» Ähnlich verhalte es sich mit dem Gebrauch von Dating-Apps, wobei es natürlich immer vereinzelt Personen gebe, die anfälliger auf die damit einhergehenden Risiken reagierten.


Christiane Weinand ist als systemische Sexualtherapeutin tätig.
Dabei beschäftigt sie sich unter anderem mit sexualitätsbezogenen Chancen und Risiken in den digitalen Medien (Schwerpunkt Pornografie) und der Prävention von sexualisierter Gewalt.
Neben ihrer Arbeit als Therapeutin und Beraterin ist sie auch Supervisorin.

 


 

Text: Katharina Schatton
Bild: Valentina Scheiwiller