Seit Mai 2022 ist die Notschlafstelle Pluto in Bern jede Nacht für junge Menschen geöffnet. Ein Interview mit den Sozialarbeiterinnen Nicole Maassen und Christine Blau.

 

Liebe Nicole, liebe Christine: Warum braucht es eine Notschlafstelle für junge Menschen in Bern?

Nicole Maassen: Es gibt nur zwei Notschlafstellen für junge Menschen in der ganzen Schweiz, nämlich das Nemo in Zürich und das Pluto in Bern.

Christine Blau: Was das Nemo schon früher gezeigt hat, bestätigt das Pluto jetzt: Der Bedarf ist da. Es ist so, dass manchmal zu viele Leute kommen. Dann versuchen wir zu triagieren. Aber niemand anders kann Minderjährige so schnell aufnehmen – vor allem nicht ohne eine Kostengutsprache. Man kann Minderjährige deshalb nur bei uns oder allenfalls in Zürich beim Nemo unterbringen. Da gibt es aber einen grossen Unterschied: Um im Nemo unterzukommen, muss man im Kanton Zürich gemeldet sein. Sprich, für Minderjährige ausserhalb des Kantons Zürich sind wir eigentlich die einzige Lösung. Daher bin ich etwas zwiegespalten: Ich finde es katastrophal, dass es Pluto braucht, aber grossartig, dass es Pluto gibt.

Was hat zur Gründung von Pluto geführt?

Nicole Maassen: Unterschiedlichste Fachpersonen der Sozialen Arbeit haben sich im Jahr 2019 immer wieder zu Austauschtreffen zusammengefunden. Denn sie haben in ihren unterschiedlichen sozialen Institutionen bemerkt, dass vor allem minderjährige Menschen keinen Schlafplatz finden. Es gibt zwar noch die Notaufnahmegruppe für Jugendliche in Bern, aber dort braucht es eine Kostengutsprache, die bürokratische Hürde ist also sehr hoch. Deshalb hat man sich gesagt: Es braucht etwas Niederschwelliges, wo junge Menschen einfach von jetzt auf gleich hinkönnen und Schutz finden. Daher haben acht Fachpersonen der Sozialen Arbeit im Jahr 2020 den Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume» gegründet.

In welcher Beziehung steht der Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume» zu Pluto?

Christine Blau: Der Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume» ist eine klassische Dachorganisation. Darunter gibt es im Moment Pluto, aber es ist durchaus denkbar, dass es irgendwann auch noch andere Projekte geben wird. Im Marketing würde man sagen, dass Pluto ein Produkt von der Marke «Rêves sûrs – Sichere Träume» ist.

Nicole Maassen: Der Vorstand von «Rêves sûrs – Sichere Träume» hat uns als Mitarbeitende ausgesucht und angestellt. Wir sind acht Menschen und ein selbstorganisiertes Team. Aber der Vorstand kümmert sich um alles Administrative. Jeweils ein Mensch vom Vorstand und ein bis zwei Menschen vom Team sind in unterschiedlichen Ressorts eingeteilt. Auf diesem Weg arbeitet das Team mit dem Vorstand zusammen.

Wie wird Pluto finanziert?

Nicole Maassen: Im Jahr 2021 wurde ein Crowdfunding gestartet, bis für die dreijährige Pilotprojektphase genug Geld gesammelt wurde, sodass die Notschlafstelle Pluto dann im Mai 2022 geöffnet werden konnte. Wir leben eigentlich nur von Crowdfunding und Stiftungsgeldern. Und das ist auch immer wieder ein Problem. Wir haben das jetzt einmal für drei Jahre durchgerechnet, aber es ist nie sicher, ob wir wirklich durchkommen.

Christine Blau: Pluto wird privat finanziert durch Spendengelder von Stiftungen, Privatpersonen und kirchlichen Kreisen. Trotzdem versuchen wir, auch von den Sozialdiensten Kostengutsprachen für die Nutzer:innen zu bekommen. Das ist nicht immer einfach, da wir ein Pilotprojekt sind und deswegen keinen Leistungsauftrag haben. Trotzdem beteiligen sich teilweise Gemeinden an der Finanzierung von einzelnen Personen, die bei uns übernachten.

Wie viele junge Menschen kommen pro Nacht zu euch?

Nicole Maassen: Eine Studierendengruppe von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), die uns begleitet, hat unser erstes Jahr, also von Mai 2022 bis Mai 2023, evaluiert. Im ersten Jahr haben 150 verschiedene Nutzer:innen bei uns geschlafen. Insgesamt waren es 2’229 Übernachtungen. Davon waren ein Drittel weibliche Nutzer:innen und ein Drittel Minderjährige. Im Durchschnitt haben sechs Nutzer:innen pro Nacht bei uns geschlafen. Das ist sehr eindrücklich, denn wir haben eigentlich nur sieben Schlafplätze, plus zwei Notfallplätze. Das heisst, die Auslastung betrug jede Nacht im Durchschnitt 87 Prozent. Das ist unfassbar hoch. Wir dachten eigentlich, wir bräuchten eine dreimonatige Anlaufphase, bis Menschen unser Angebot finden. Aber ab der dritten Nacht nach der Eröffnung gab es immer Menschen, die bei uns übernachtet haben.

Wie lange bleiben diese im Durchschnitt?

Nicole Maassen: Im Durchschnitt bleibt ein:e Nutzer:in um die acht Nächte. Aber es variiert natürlich. Manche Menschen bleiben eine Nacht, aber wir hatten auch ein bis zwei Menschen, die bis zu drei Monate da waren. Die Menschen bleiben einfach so lange, bis man eine Anschlusslösung gefunden oder vielleicht auch die Rückkehr ins Herkunftssystem organisiert hat.

Aus welchen Gründen kommen sie zu euch?

Nicole Maassen: Das ist immer unterschiedlich. Meistens ist es auch nicht auf einen einzigen Grund zurückzuführen, sondern eine Mehrfachproblematik. Aber der meistgenannte Grund sind Gewalt und Konflikte in der Herkunftsfamilie. Es kann sein, dass Menschen von selbst gegangen sind aufgrund von physischer oder psychischer Gewalt, oder aber sie wurden von den Eltern auf die Strasse gesetzt. Aber natürlich kommen auch die Institutionsdurchläufer:innen mit psychischen Krisen oder Suchterkrankungen.

Christine Blau: Ein weiterer Grund kann Migration sein. Dort gibt es zwei Varianten, wie Menschen zu uns kommen: Zum einen Arbeitsmigration ganz klassisch, nämlich Menschen aus den EU-Staaten, die in die Schweiz kommen und Arbeit suchen. Zum anderen gibt es aber noch einen riesengrossen anderen Teil, das sind die Asylsuchenden. Grundsätzlich landen diese zuerst in einer Kollektivunterkunft. Dort kommt es immer wieder zu schwierigen Situationen, die dann zu einem Time-out oder sogar zu einem Hausverbot führen. Die Personen fallen aus sämtlichen Rastern im Asylbereich. Das ist für Jugendliche und junge Erwachsene mit einer Fluchtgeschichte, die ja selbst schon traumatisch ist, enorm schwierig.

 

Das Team von Pluto mit Nicole Maassen (zweite von vorne links) und Christine Blau (hinten rechts)

 

Spürt ihr auch die Folgen der Coronapandemie?

Christine Blau: Kinder- und jugendpsychiatrische Statistiken und Obdachlosigkeitsstatistiken zeigen: Corona hat massive Auswirkungen auf die Wohnsituation der Leute gehabt. Das finde ich völlig nachvollziehbar, weil plötzlich die ganze Familie auf einem Haufen sass. Und das merken wir auch zum Teil in der psychischen Verfassung unserer Nutzer:innen.

Nicole Maassen: Ja, das merken wir jetzt auf jeden Fall. Aber die Problematik, dass es wohnungslose Menschen gibt, gab es auch schon im Jahr 2019. Denn schon da hatte man erkannt, dass es eine Lücke im System gibt, und entschieden, Pluto zu gründen.

Christine Blau: Und diese Problematik gibt es natürlich auch nicht erst seit 2019, sondern seit immer und ewig. Tatsache ist, dass junge Männer in der Regel versucht haben, sich irgendwie auf der Strasse durchzuschlagen. Junge Frauen haben dagegen eher versucht, irgendwie Übernachtungsmöglichkeiten zu finden – im schlimmsten Fall mit Gegenleistungen, zum Beispiel der sexualisierten Art, was keine schöne Variante ist. Ich glaube nicht, dass sich das mit oder ohne Corona geändert hat, sondern es ist einfach Realität, dass Jugendliche und junge Erwachsene in ihrem Herkunftssystem nicht immer gut aufgehoben sind.

Was ist das Schwierigste an eurem Beruf?

Nicole Maassen: Eine der grössten Herausforderungen ist auf jeden Fall die Überbelegung. Es passiert nicht jeden Tag, aber es gibt Abende, an denen man Menschen einfach ablehnen muss. Da haben wir unterschiedlichste Indikatoren für Vulnerabilität, auf welche wir schauen. Zum Beispiel werden weibliche und minderjährige Menschen eher aufgenommen. Wir versuchen anschliessend weiterzuvermitteln, aber die Notschlafstellen für Erwachsene sind auch komplett am Limit, ob in der Westschweiz oder in der Deutschschweiz.

Und das Schönste?

Nicole Maassen: Wir finden eigentlich für fast jeden Jugendlichen einen Moment Zeit. Unsere Arbeitsgrundsätze sind ganz anders als in anderen sozialen Institutionen. Wir setzen auf Niederschwelligkeit und Anwaltschaftlichkeit. Das bedeutet, dass wir uns immer für die Bedürfnisse unserer Nutzer:innen einsetzen. Wir finden immer individuelle Lösungen. Ein junger Mensch verlässt Pluto nie mit dem gleichen Gefühl, mit welchem er hergekommen ist.

Christine Blau: Das Schönste ist, wenn jemand später auf Besuch zurückkommt. Es gibt Leute, die kommen immer wieder auf Besuch und erzählen, wie es so läuft. Das bestätigt mich darin, dass die Niederschwelligkeit, unsere Art, wie wir auf die Leute zugehen, etwa dass wir regelfrei und sehr individuell arbeiten, extrem gut funktioniert. Das bestärkt unsere Nutzer:innen darin, Lösungen für sich selbst zu finden. Das gelingt in vielen Fällen.

Welche Botschaft möchtet ihr an die Leser:innen dieses Artikels richten?

Christine Blau: Arbeitet mit dem Individuum und nicht mit Regeln!

Nicole Maassen: Ich habe dafür eine gute Anekdote. Zwei, drei junge Menschen haben einmal zu mir gesagt: Hey Nici, so wie ihr gefragt habt, was ich möchte, hat mich das noch nie jemand gefragt. Alle wussten immer nur, was das Beste für mich ist. Das finde ich eindrücklich.

 

Text Sophie Sele

Fotos Klaus Petrus