Am 15. November 2012 lud der Taschenhersteller FREITAG im Rahmen der Vortragsreihe „FREITAG am Donnerstag“ Erwin Koch zum Gespräch. In ihrem Store in Zürich, umgeben von Rucksäcken und Taschen, sprach der renommierte Autor über die Angst des Vergessens, Emotionen und seine kleine Wahrheit.

„Der Bildschirm ist leer. Du sitzt da und entscheidest dich, wo du mit der Geschichte beginnst. Dann schreibst du den ersten Satz, dann den zweiten.“ Für Erwin Koch ist Journalismus auch Handwerk. Er denke beim Schreiben nicht an das Publikum des Textes. „Ich denke eher egoistisch. Stimmt der Text für mich?“ Koch erläutert an diesem Morgen seine ganz bestimmte Vorgehensweise beim Verfassen von Texten. Er schreibt einen Katalog, der 125 Fragen umfasst, stellt diese in einem persönlichen Gespräch und zeichnet es auf einem Tonband auf. Die stundenlangen Gespräche tippt er ab, bringt sie in Ordnung und verfasst dann den Text. Handwerk eben. Sein umfassender Fragenkatalog und das Abtippen sind für Koch Ausdruck seiner Angst etwas zu vergessen. Bei einem sechsstündigen Gespräch weiss Erwin Koch genau, „dass das Abtippen dann zwölf Stunden dauert“, doch er lacht und fügt an: „Vielleicht bin ich ja ein Idiot.“

Kochs Lieblingsgeschichte

Erwin Koch betont öfters, dass er kein typischer Journalist sei. Er habe nie Nachrichtenjournalismus betrieben und seine Reportagen besässen keine tagespolitische Relevanz. Dennoch wurde er für seinen Text „Sarah“ für den Deutschen Reporterpreis 2012 nominiert. „Sarah“ ist eine von Kochs Lieblingsgeschichten. „Ich neige immer etwas dazu, die Geschichten als meine Lieblingsgeschichten zu begreifen, die ein grosses Echo auslösen“, erklärt er. Die Geschichte von Sarah beschreibt die letzten zwei Jahre eines siebzehnjährigen Mädchens, das an Leukämie erkrankt war. Dass es einer seiner liebsten Texte ist, merkt man. Koch erörtert seine Vorgehensweise, seine Technik immer wieder am Beispiel von „Sarah“. Er erzählt, wie er mit der Familie sprach, wie diese reagierte und wie er selbst mit dem Erlebten umging.

„Ich habe auch geweint“

Erwin Koch gibt im randvollen FREITAG Reference Store auch preis, was solch emotionale Geschichten in ihm auslösen.Im Fall von « Sarah » fuhr er mit der Endfassung zur Sarahs Familie. Er habe Angst gehabt, dass die Familie zu viele Änderungswünsche habe, wenn er ihnen den Text schicken würde. Deshalb las er ihn ihnen persönlich vor. Sarah habe während ihrer Krankheit Dinge über ihren Vater gesagt wie: „Der Typ da, der kann jetzt verreisen.“ Bei diesen Stellen habe der Vater von Sarah geweint. „Ich bin selbst Vater und musste dann auch weinen, es verschlug mir teils sogar die Stimme“, schildert Koch den emotionalen Moment.

Der renommierte Autor sieht Reportagen auf seine eigene Art und Weise. Für ihn existiere eine „eigene kleine Wahrheit. Für mich sind Reportagen nicht ein journalistisches Gefäss, das vollständige Informationen liefert“, erklärt Koch. Wenn man die Vollständigkeit der Informationen haben möchte, so sei ein trockener Bericht besser geeignet. Koch sucht hingegen idealtypische Personen, deren Biografien möglichst viel eines Ereignisses abdecken, um dann deren Geschichte zu beschreiben. Und oft sei es Glückssache, die richtige Person zu finden.

Geschichten gut erzählen

Kochs Geschichten behandeln Themen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Geschichten wie die eines Ehepaars, die die letzten vier Tage vor dem Freitod des Mannes noch gemeinsam verbrachten oder die Geschichte einer Frau, die als junges Mädchen jahrelang von ihrem Turntrainer sexuell missbraucht wurde. Erwin Koch betont, er wähle diese Themen nicht, weil sie gerade politisch relevant seien, sondern weil es bei ihm „Klick“ mache. „Klick“ wie an der Beerdigung von Sarah. Und dann gehe es ihm bei seinen Reportagen alleine darum „eine gute Geschichte gut zu erzählen“.

Von Flavio Dal Din