Mithilfe von persönlichen Erfahrungen und Aufklärung über Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen will ABQ Brücken schlagen. Spectrum im Gespräch mit einem Mitglied.

Bei der Erinnerung an den Sexualkundeunterricht schleicht sich manchen Personen vielleicht ein beschämtes Lächeln ins Gesicht. Seine Wichtigkeit ist aber unbestritten: Er dient der Aufklärung und Prävention und ist mittlerweile tief verankert an Schulen. Während zu Beginn der Fokus stark auf den biologischen Aspekten lag, hat sich dieser mittlerweile etwas verschoben. Der Verein ABQ trägt seinen Teil dazu bei – und dies schon seit 1999. Seit zehn Jahren ist Marin Krämer ein festes Mitglied von ABQ. Marin spricht über die Entwicklung des Vereins, über den Wunsch nach mehr Diversität im Team und über die Fusion mit dem Verein Gleichgeschlechtliche Liebe leben (GLL).

Sexualkunde im Wandel

Zu Beginn der 2000er-Jahre, als Marin die Schule besuchte, war Sexualkunde von Heteronormativität geprägt. Die zentralen Themen waren die biologischen Geschlechtsmerkmale und Verhütung. Die Vorstellung, über sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Vielfalt aufzuklären, stand nicht zur Frage. Zu dieser Zeit führte der ABQ zehn Besuche pro Schuljahr durch, heute sind es zwischen 30 und 40 in den Kantonen Bern, Freiburg, Jura und Solothurn. Der Schwerpunkt der Schulbesuche lag 1999 mehrheitlich auf Homosexualität und Bisexualität. Ein Blick auf Medienberichte von damals zeigt, dass schon diese Inhalte für Aufregung sorgten. Heute hat sich das Repertoire ausgeweitet. Seit ungefähr fünf Jahren öffnen sich die Schulbesuche hin zu Geschlechtsidentitäten. Eine Weiterentwicklung ist konstant im Gange. «Lebenskundethemen steht mehr Raum zur Verfügung. An Schulen entwickelt sich die Tendenz, Diversität in vielen Aspekten aufzugreifen», so Marin.

Der Verein ist gemeinnützig und finanziert sich durch Spenden sowie durch die Unterstützung der Berner Bildungs- und Kulturdirektion. Vor kurzem fand eine weitere Veränderung statt: Am 7. September 2023 fusionierte ABQ Schulprojekt mit GLL. Der neue Verein trägt nun den Namen ABQ und wird in der ganzen Deutschschweiz voraussichtlich 250 bis 350 Besuche pro Schuljahr durchführen. Die Visionen und Ziele ändern sich durch die Fusion nicht, sondern werden dadurch gestärkt.

Doch nicht so «anders»

Seit Marin in einem Seminar an der PH Bern von ABQ Schulprojekt gehört hat, ist Marin in Schulen unterwegs, jeweils in Begleitung von zwei bis drei anderen Schulbesucher:innen. Das Ziel ist die Vermittlung eines gleichwertigen Bilds von allen Lebens-, Liebes- und Geschlechterformen. Die Schulbesucher:innen sind selbst queer oder enge Bezugspersonen von queeren Menschen und bringen ihre eigenen Geschichten mit. Die Kombination aus persönlicher Erfahrung und Wissensvermittlung sei es, was ein Schulbesuch von ABQ so wertvoll mache, erklärt Marin. Es nehme die Berührungsangst und breche den Prozess des Otherings.

 

Othering

Der Begriff beschreibt den Prozess, wenn Menschen wegen ihrer Attribute als «anders» oder «fremd» wahrgenommen werden. Das kann aufgrund ihrer sozialen Stellung, ihrer Ethnizität, ihrer Sexualität, ihres Geschlechts oder weiterer Merkmale der Fall sein. Der Vorgang ist insofern problematisch, weil er ein «wir» kreiert und Überlegenheit suggeriert. Dieses Phänomen tritt auch im Umgang mit queeren Personen auf.

 

Auf Schulbesuch

Sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Vielfalt sind Teil des Lehrplans 21. In der Realität ist deren Vermittlung jedoch nicht immer gewährleistet. Einerseits weil die Lehrpersonen selbst Berührungsängste haben, andererseits weil sie sich möglicherweise als zu wenig kompetent erachten, über LGBTQ+-Themen zu reden. An diesem Punkt kommt ABQ ins Spiel. Die Schulbesucher:innen verbringen drei bis vier Lektionen mit der Schulklasse.

Zu Beginn startet das Team mit einem soziometrischen Spiel: Die Schüler:innen werden nach verschiedenen Eigenschaften gefragt. Die Jugendlichen positionieren sich im Klassenzimmer bei Ja, Nein, dazwischen oder ausserhalb. Das Ziel des Spiels ist es, den Jugendlichen beizubringen, dass alle Menschen Merkmale mit sich bringen. Sie erfahren, dass Personen, die zur Mehrheit gehören, beeinflussen, wie es Personen geht, die einer Minderheit angehören. Das Spiel zeigt auch auf, dass jede:r gelegentlich einer Minderheit angehört. Besonders die Frage, wer Linkshänder:in ist, dient als Beispiel für die Unterdrückung von queeren Menschen. Früher waren Linkshänder:innen aufgrund von Stigmatisierung und der damaligen Praxis, Linkshändigkeit zu unterbinden, selten anzutreffen. Heute ist die Zahl der Linkshänder:innen deutlich gestiegen, weil es akzeptiert und nicht mehr unterdrückt wird. Der Vergleich könne aufzeigen, dass queer sein kein Trend sei, erklärt Marin. Es habe schon immer queere Menschen gegeben, heute können die meisten von ihnen einfach sichtbar leben.

Der Besuch geht weiter mit einem Begriffsmemory und einigen Fakten zur rechtlichen Situation von queeren Personen. Auf die Frage, ob die Jugendlichen von heute mehr Wissen besitzen als diejenigen vor zehn Jahren, gibt Marin eine vorsichtige Antwort: «Sie wissen vielleicht mehr, aber heutzutage gibt es auch deutlich mehr Begriffe als früher. Zudem handelt es sich oft um Halbwissen, welches sie auf Social Media aufgeschnappt haben.»

Danach erzählen die Schulbesucher:innen von ihren persönlichen Coming-out-Geschichten. «Dieser Teil wird sehr geschätzt. Es bringt einem Respekt und Wertschätzung ein», führt Marin aus. Es sei aber wichtig, sich zuvor mit der eigenen Geschichte intensiv auseinandergesetzt zu haben. Das Teilen der Gefühlswelt mit den Jugendlichen könne laut Marin nämlich heilsam, aber ebenfalls aufwühlend sein – auch für die Schüler:innen: «Manchmal kommt es vor, dass sich Jugendliche während des Besuchs outen, weil sie merken, dass die Klasse gar nicht so homo- oder transphob ist, wie gedacht. Solche Momente berühren uns Schulbesucher:innen immer sehr und sind schön mitzuerleben».

 

Safe Space im Klassenzimmer

Auf die Frage, ob es schon negative oder beleidigende Situationen gegeben habe, antwortet Marin, dass sich transphobe oder homophobe Haltungen meist nicht explizit zeigen würden – selbst wenn das auch schon vorgekommen sei. Trotzdem würden die Schulbesucher:innen spüren, wenn ablehnende Haltungen in der Klasse vorhanden seien: «In dem Fall platzieren wir unseren Eindruck nach dem Besuch bei der Lehrperson und empfehlen ihr, nochmals mit der Klasse zu reden. Für queere Klassenmitglieder ist es schwierig, wenn die Lehrperson nichts unternimmt. Die ganze Schule trägt die Verantwortung, einen möglichst diskriminierungsfreien Raum herzustellen.»

Nach dem Schulbesuch legt das Team der Lehrkraft ans Herz, die Inhalte mit der Klasse nachzubereiten und das Gelernte langfristig ins Klassenklima einzubinden. Dazu gehöre, im Alltag und in der Sprache inklusiver aufzutreten, um Diversität bezüglich sexueller Orientierungen und Identitäten zu normalisieren.

Lehrplan Q

Um den Lehrpersonen dieses Vorhaben zu erleichtern, wurde die Webseite zum sogenannten Lehrplan Q gegründet. Darauf finden sich Fachliteratur, Lehrmittel und die Möglichkeit, bei Organisationen wie ABQ Klassenbesuche zu buchen. Des Weiteren können Lehrpersonen und Schulmitarbeitende an Weiterbildungen zum Umgang mit queeren Jugendlichen teilnehmen. Neben Pink Cross, der Lesbenorganisation Schweiz (LOS), Transgendernetwork Switzerland (TGNS) und anderen Organisationen im Bereich Jugendliche, Schule und LGBTQ+ ist auch ABQ mit dabei. Durch Lehrplan Q wurde auch ein Code of Conduct erstellt, welcher die Qualitätsstandards für die Arbeit mit Schüler:innen und Lehrpersonen festlegt. Das Motto lautet: Wissen schafft Akzeptanz!

Gegen Ende des Interviews teilt Marin noch ein wichtiges Anliegen mit. Denn ABQ wünscht sich zukünftig mehr Diversität unter den Schulbesucher:innen: «Wir sind bereits eine sehr unterschiedliche Mitgliedergruppe, wir suchen aber vermehrt nach queeren Personen mit Migrations- oder Fluchterfahrung und nach queeren BIPoC.» Allgemein sucht ABQ stets nach neuen Mitgliedern – das Alter oder der berufliche Hintergrund spielen dabei keine Rolle. Die einzige Voraussetzung ist, zwei bis drei Mal pro Monat Zeit für einen Schulbesuch aufbringen zu können. Für Interessierte gibt es die Möglichkeit, sich für einen Online-Informationsanlass anzumelden, um einen ersten Einblick in ABQ zu erhalten.

Die Entwicklung von ABQ bleibt spannend. Das Problem der Stigmatisierung von queeren Personen in unserer Gesellschaft besteht weiter und gerade deswegen gibt es Vereine wie ABQ, welche kontinuierlich daran arbeiten, Fortschritte herbeizuführen. Wie Marin bemerkt: «Veränderungen lösen im ersten Moment sehr viel Irritation aus.» Und gerade deswegen braucht es sie.

 

Text Amélie Oberson

Illustration Marie Schaller


Marin Krämer (keine Pronomen)

Seit 2013: Bei ABQ als Schulbesucher:in und im Vorstand. Zuständig für die Betreuung und Ausbildung der Mitglieder.

Seit 2014: Berufstätig als Lehrperson Sek I

 

ABQ Webseite

https://www.abq.ch